Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
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KaRSTEn RiEdEL<br />
(VORhERiGE SEiTE)<br />
iST pUnK Und<br />
ROManTiKER Und<br />
EinER dER bESTEn<br />
MUSiKER bOch-<br />
UMS. ER TRiFFT aUF<br />
dEn REGiSSEUR<br />
chRiSTOph FRicK<br />
(LinKS).<br />
DER HERbSTwiND<br />
SCHüTTElT DiE liNDE,<br />
wiE gEHT DiE wElT<br />
SO gESCHwiNDE!<br />
D<br />
(JOSEph VOn EichEndORFF, zUM abSchiEd)<br />
KaRSTEn RiEdEL & chRiSTOph FRicK — phanTOMSchMERz<br />
ie Welt ändert sich ständig und manchmal gibt es<br />
Momente, in denen sie besonders schnell zu gehen<br />
scheint. dann meinen wir zu sehen, wie sie rast und sich<br />
verändert so geschwinde. Es gibt Menschen, die glauben,<br />
jedes Mal wenn Steve Jobs mit einem Gerät in der hand<br />
auf einem bildschirm erscheint, verändere sich die Welt.<br />
andere glauben, die Welt verändere sich, wenn junge<br />
Männer ohne Jacken computer auf die Straße tragen und<br />
keine arbeit mehr haben. am 11. September 2001 haben<br />
wir endlos gedehnte lange Sekunden auf das Flugzeug gestarrt,<br />
das auf das haus zuraste. Wir haben zugesehen, wie<br />
die Welt sich veränderte, geschwinde.<br />
dass die Welt sich ändert, behaupten und befürchten<br />
wir nicht erst seit der letzten, aktuellen Krise. Wir hoffen<br />
auf die Erfolge der Wissenschaft, Forschung und Technologie,<br />
die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Gesellschaften<br />
industrialisieren und modernisieren, doch ebenso<br />
lange kursieren katastrophische Szenarien. die zukunft<br />
Europas sah immer schon finster aus und das Abendland<br />
geht unter, nicht erst, seitdem Klimawandel und Globalisierung<br />
debattiert werden.<br />
die stetige, immer rasanter werdende Veränderung der<br />
Welt ist einer der fundamentalen Glaubenssätze des modernen<br />
Europas. Es ist die tiefe Überzeugung der Moderne<br />
selber, die an Veränderung glaubt und sich niemals entscheiden<br />
kann, ob sie sie ersehnt oder fürchtet. in dieser<br />
ambivalenz liegt ein Kern der Moderne: sie begrüßt die<br />
Veränderung der Welt als Triumph, wenn sie sich selber<br />
als agent und Motor der Veränderung beschreibt, doch<br />
79<br />
sie prophezeit den drohenden niedergang und Untergang,<br />
wenn Veränderungsprozesse erlitten und eingeschrieben<br />
werden in Menschen und Ordnungen. beide perspektiven<br />
kennzeichnen das moderne europäische denken bis<br />
heute.<br />
Geschwindigkeit und Veränderung sind Leistungen, auf<br />
die Europa stolz ist: es geht voran. Technologie, Forschung,<br />
Ökonomie, perfekt verzahnt und immer in bewegung. Wir<br />
glauben an den stetigen Wandel, an Fortschritt, Wachstum,<br />
Expansion und innovation.<br />
aus dem Selbstverständnis, stetiger Motor des Wandels<br />
zu sein, bezieht Europa im Kern seinen Stolz und seine hegemoniale<br />
Vormachtstellung in der Welt. Wir waren eben<br />
immer ein bisschen schneller als die anderen.<br />
wiR SiND SO TiEF bETRübT,<br />
wENN wiR AuCH SCHERZEN;<br />
DiE MENSCHEN TOSEN uNTEN,<br />
gEHEN uND REiSEN,<br />
DiE wElT ZiEHT STill uND STRENg<br />
iN iHREN glEiSEN,<br />
EiN FEuCHTER wiND vERlöSCHT<br />
DiE luSTgEN kERZEN.<br />
g<br />
(JOSEph VOn EichEndORFF, SOnETT)<br />
leichzeitig wird die Moderne als tief greifende Erfahrung<br />
von Verlusten beschrieben: der Verlust<br />
von autonomie und Selbstbestimmung scheint massiv,<br />
Menschen und ganze Gesellschaften wirken maschinell<br />
und kalt. Weil nicht das Schöne und Gute, nicht Empfindungen<br />
zählen, sondern die Ware, die Effektivität und die<br />
Leistung. Weil wir zuviel verloren haben: die natur, das<br />
authentische, das Echte und Unmittelbare, die Moral und<br />
den Glauben. Weil wir den boden unter den Füßen verlieren<br />
und wir uns viel zu schnell drehen.<br />
auch gerade jetzt im Moment schauen wir zurück und<br />
konstatieren Verluste und Krisen in allen bereichen: nie<br />
schien die Welt so dem Untergang geweiht, nie so krisengeschüttelt<br />
und finster. Wir bedauern den Verlust sozialer<br />
Sicherheit und familiärer bindung, ökonomischer und politischer<br />
Verbindlichkeit.<br />
aber daran sollten wir uns gewöhnt haben. das ist<br />
nichts neues. Es sind die alten Fragen und die alten bilder,<br />
die uns leiten. Wir sind optimistische Führungspersönlichkeiten<br />
und hoffnungslose Melancholiker in einem<br />
atemzug, selbstbewusste Macher und Romantiker. doch<br />
wir trauern seit vielen Jahren um Verluste, an die wir uns<br />
nicht erinnern können. phantomschmerzen.