Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum
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ten. Wobei zu befürchten ist, dass das<br />
nicht immer so bleiben wird. Wenn<br />
nur ihre Vorstellung vom Islam das<br />
Leben bestimmt, dann wird es nicht<br />
so bleiben können.<br />
Ist das nicht ein Widerspruch? Die Religion<br />
bestimmt viel stärker als früher<br />
das Straßenbild, aber gleichzeitig gibt es<br />
einen größeren Liberalismus?<br />
Die AKP gibt sich momentan äußerst<br />
demokratisch, offen, progressiv.<br />
Sie verkündet, dass sie Meinungen,<br />
Glauben und Sprachen der anderen<br />
respektiert. Und sie hat in der türkischen<br />
Geschichte mit der größten<br />
und mutigsten Arbeit angefangen:<br />
Um das Kurdenproblem zu lösen,<br />
hat sie viele Türen geöffnet. Noch<br />
hat sich nicht viel verändert, aber es<br />
kann sich weiterentwickeln, wenn es<br />
zugelassen wird. Auch das Thema der<br />
Armenier wurde bis heute nie ernsthaft<br />
behandelt. Ich denke nicht, dass<br />
sie all das nur machen, um in die<br />
Europäische Union aufgenommen<br />
zu werden. Sie verfolgen viel größere<br />
Projekte: von all diesen politischen<br />
Themen weg zu kommen, um dann<br />
immer reicher und mächtiger zu<br />
werden. Davor habe ich am meisten<br />
Angst.<br />
Was genau macht dir dabei Angst?<br />
Wenn sie diese Macht erhalten,<br />
fürchte ich mich vor den Dingen, die<br />
die Menschen, die sich mit Politik<br />
befassen, dann tun würden.<br />
Welche?<br />
Zum Beispiel könnten sie denken,<br />
dass Demokratie die Kraft der Mehrheit<br />
ist.<br />
Also hast du Angst vor der Herrschaft<br />
der Mehrheit?<br />
Ich habe Angst vor einer politischen<br />
Gruppierung, die Macht in der Hand<br />
hält und wächst. Und das als Waffe<br />
nutzt. Wenn man Macht bekommen<br />
hat, möchte man diese Macht auch<br />
behalten und erweitern.<br />
Wie geht ein Theater mit so viel Spannung<br />
und Widersprüchen um?<br />
Seit die Türkei im 20. Jahrhundert<br />
moderner und westlicher geworden<br />
ist, ahmt das türkische Theater<br />
das westliche Theater nach. Durch<br />
MAHIr GüNSIrAy — MEPHISTANBUL<br />
Stand-ups oder Boulevardtheater<br />
wird es im Stadt- und Staatstheater,<br />
aber auch in privaten Theaterhäusern<br />
so gemacht. Aus einer gewissen<br />
Sicht passt das Theater eigentlich<br />
nicht zu unserem Leben.<br />
Inwiefern?<br />
Die Türkei ist mit keinem anderen<br />
europäischen Land vergleichbar. Wir<br />
sind in Bildungs-, Gesundheits- und<br />
Kulturangelegenheiten immer noch<br />
sehr rückständig. Für uns Türken<br />
sind die sogenannten Köy-oyunlari,<br />
die traditionellen Dorfstücke oder<br />
Geschichten, die in cafés erzählt<br />
werden, viel unterhaltsamer. Man<br />
sitzt um den Tisch herum, es wird<br />
gegessen, getrunken, gesungen, dann<br />
nimmt jemand die Saz von der Wand<br />
und spielt, man erzählt sich Witze.<br />
Das ist unsere Unterhaltung. Wie<br />
„soll reliGion das leben<br />
bestimmen oder nicht?<br />
soll sie sich in das leben<br />
einmischen oder<br />
soll man sie im privaten<br />
ausleben?“<br />
soll das Theater sich da zurechtfinden?<br />
Welche Art von Theater kann<br />
es mit diesen Menschen machen? Es<br />
kommt deshalb darauf an, was wir<br />
unter Theater verstehen. Solange wir<br />
das tote, langweilige Theater, das wir<br />
vom Westen kopieren, fortführen,<br />
können wir nicht gewinnen: Vorne<br />
brennt das Licht, eine Tür, ein Fenster,<br />
es wird Leben gezeigt. Du sitzt<br />
da und schaust es dir an. Du siehst<br />
Menschen, die sich streiten, die sich<br />
lieben. Egal, wie gut es ist, es kann in<br />
keiner Weise besser und attraktiver<br />
sein, als eine Serie, die man sich zu<br />
Hause im Pyjama auf der couch im<br />
Fernsehen anschaut. Und in allen<br />
Dörfern der Türkei gibt es zwei Fernseher<br />
pro Haushalt und drei Satellitenschüsseln.<br />
Was verleiht dem Theater Bedeutung?<br />
Man muss einen eigenen Weg finden.<br />
Mit unserem Tiyatro oyun Evi<br />
spielen wir, seit es uns gibt, nicht<br />
nur an einem ort, sondern gehen<br />
86<br />
auf Tournee. Manchmal müssen wir<br />
große Kompromisse eingehen, auf<br />
den Großteil unserer Dekoration<br />
oder auch auf das gesamte Bühnenbild<br />
verzichten. Wir haben auf Straßen<br />
gespielt. Wir haben uns nicht<br />
nach den Erwartungen der Zuschauer<br />
gerichtet. Wir haben Genets „Die<br />
Zofen“ in einer Stadt wie Diyarbakir<br />
gespielt, oder auch Kafka am gleichen<br />
ort. In Hakkari haben wir<br />
in einem Kino gespielt. Wir haben<br />
niemals darüber nachgedacht, dass<br />
die Menschen vielleicht nichts von<br />
Genet verstehen. Aber im Gegenteil:<br />
Als wir in Mersin „Die Zofen“<br />
gespielt haben, hat ein 14-jähriger<br />
kleiner kurdischer Junge das Stück<br />
verstanden, der nicht zur Schule gegangen<br />
ist. In Istanbul hat es sich ein<br />
Dramaturg angeschaut und es nicht<br />
verstanden. Aber in Mersin kam der<br />
Junge zu mir und meinte „Hey, ihr<br />
spielt großartig! Eure Performance<br />
ist toll.“ Ich habe ihn gefragt, was er<br />
verstanden hat. Er antwortete: „Du<br />
und der andere schmieden Pläne die<br />
Frau umzubringen, aber sobald sie<br />
kommt, könnt ihr nichts unternehmen.<br />
Wenn sie weg ist, steht ihr nur<br />
so da.“<br />
Mich hat überrascht, dass es in einer<br />
Stadt wie Istanbul, in der über 15 Millionen<br />
Menschen leben, eigentlich keine<br />
Räume für größere Theaterproduktionen<br />
gibt. Wie kommt das?<br />
Ich weiß nicht, wie viele von diesen<br />
15 Millionen Menschen wirklich leben.<br />
Je nachdem was wir unter „leben“<br />
verstehen!<br />
Das musst du genauer erklären.<br />
Während ein Haushalt von 5000<br />
Euro lebt, muss eine Großfamilie<br />
direkt auf der anderen Straßenseite<br />
von nur 100 Euro leben. Wie sollen<br />
wir jetzt berechnen, wie viele Millionen<br />
Menschen „leben“? Früher hatten<br />
wir unser Theater im osten von<br />
Tarlabasi, dem Vergnügungsviertel<br />
von Istanbul. Uns hat nur eine Straße<br />
vom Stadtteil Beyoglu getrennt.<br />
Dort waren Kurden, Armenier, Nigerianer,<br />
Prostituierte, Transvestiten<br />
– und wir. Damals hat claude Leon,<br />
unsere Bühnenbildnerin, umsonst<br />
wöchentliche Workshops für Kinder<br />
angeboten. Die Kinder, die mit