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Boropa SpIELZEITMaGaZIn 2010/2011 - Schauspielhaus Bochum

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einen Riss im kosmischen Gewebe<br />

von Zeit und Raum entdeckt, als sei<br />

ich zurückgekehrt an einen Ort, der<br />

zumindest in meiner Fantasie Teil<br />

meiner Kindheit war, der irgendwie<br />

zu mir gehörte.<br />

Nie werde ich die Begeisterung<br />

vergessen, die ich empfand, als ich<br />

bei der Einfahrt meines ICE in den<br />

Bahnhof den kolossalen Turm der<br />

Dortmunder Union Brauerei erkannte.<br />

Auf den Fotografien meines Vaters<br />

hatte ich ihn immer als Wächter über<br />

die Stadt wahrgenommen. Sein krönendes<br />

Neon-„U“ war der Kompass,<br />

an dem man sich orientierte. Als ich<br />

vor sieben Jahren an dem dunkelroten<br />

Ziegelbau hinaufblickte, rührten<br />

mich die Spuren jahrzehntelanger<br />

Vernachlässigung und Verwitterung<br />

zu Tränen. Als Zentrum eines Technoparks<br />

unseres E-Zeitalters wieder<br />

hergestellt, soll ihm in diesem Jahr<br />

neues Leben eingehaucht werden.<br />

Das Ruhrgebiet, das ich als Junge<br />

aus der Ferne liebte, ist anders in der<br />

Erinnerung meiner Freunde aus der<br />

Region. Für mich verkörpert es die<br />

heroische Energie der Industrie, die<br />

der grünen, postindustriellen Heiterkeit<br />

der Moderne weichen musste.<br />

Obwohl ich oft genug hier war,<br />

um zu wissen, dass nicht immer Ruhe<br />

herrschte in Arkadien, dass die Straßen<br />

so manches Mal gelb waren von<br />

den Bannern der protestierenden Arbeiter,<br />

die um ihren Job fürchteten,<br />

weil die Unternehmen die Produktion<br />

in die Betriebe im Süden der Welt<br />

verlagerten.<br />

Die Erinnerung meiner etwa<br />

gleichaltrigen Freunde aus Unna,<br />

Hamm, Bielefeld und Gelsenkirchen<br />

ist hingegen weniger erfüllt von Souvenirs<br />

einer Idylle. Ihre Bilder ähneln<br />

eher einem phantasmagorischen<br />

Gemälde von Hieronymus Bosch. Sie<br />

erzählen mir vom Himmel, der um<br />

Mitternacht Feuer fing. Sie sprechen<br />

von ihren Großmüttern, die sagten,<br />

das Glühen des geschmolzenen Eisens<br />

wäre ihr wahrer Sonnenaufgang.<br />

Noch heute rümpfen sie die<br />

Nase, wenn sie an den Geruch des<br />

Hopfens denken, der in der Nähe<br />

der Brauereien in der Luft hing. Und<br />

noch immer hören sie das Rumpeln<br />

des Zuges, der das Roheisen gemächlich<br />

vom einen Ende des riesigen<br />

RANJIT HOSKOTE — PHÖNIx AUS DER KOHLE<br />

Industriereviers zum anderen transportierte,<br />

obwohl die Gleise, auf<br />

denen er fuhr, längst geborsten sind<br />

und Blumenfelder da wachsen, wo<br />

sie einst ihr Bett hatten.<br />

Schnallt euch an, ihr<br />

Sterblichen!<br />

die reiSe in daS leben<br />

nach dem tod beginnt!<br />

Stapelweise Geranien und Azaleen.<br />

Wir sind durch den Nieselregen gefahren,<br />

erreichen nun ein anderes<br />

Denkmal, das eine andere Geschichte<br />

erzählt: <strong>Bochum</strong> Hauptfriedhof.<br />

Hinter einem Palisadenzaun an der<br />

Immanuel-Kant-Straße, durch einen<br />

Vorhang von Trauerweiden spähend,<br />

versuche ich, den hohen, den viel zu<br />

hohen Gebäudekomplex zu erkennen.<br />

Wir passieren ein schwarzes<br />

Tor, das von zweifelhaften Helden<br />

gehütet wird, die Schwerter, Schilde<br />

und ein kaum maskiertes Hakenkreuz<br />

tragen. Wir laufen durch den<br />

Eingangsbereich, der einem Lichtschacht<br />

ähnelt, doch es ist Dunkelheit,<br />

die aus großer Höhe über uns<br />

hereinbricht. Einen kurzen Moment<br />

lang sind wir wie blinde Fische auf<br />

dem tiefsten Grund des Ozeans, bevor<br />

uns das perlmuttfarbene Licht<br />

erreicht und befreit.<br />

Nun stehen wir in der düsteren<br />

Halle der Geister, die von den hohen,<br />

dunklen Fenstern, schmalen Schlitze<br />

in den Wänden, die scheinen, als<br />

seien sie in Erfüllung des Befehls<br />

eines Burgvogts in einem Paradies<br />

im Belagerungszustand entstanden,<br />

kaum erhellt wird. In den 1930er<br />

und 1940er Jahren machten Menschen<br />

auf ihrem langen Weg nach<br />

Walhalla hier gezwungenermaßen<br />

Station und wurden Zeugen der Inszenierung.<br />

Fackeln brennen an den<br />

Mauern, spiegeln sich in den Metallsternen,<br />

hinter dem Altar. Die Totenbahre<br />

wird von unten hochgefahren.<br />

Schnallt euch an, ihr Sterblichen!<br />

Die Walküren sind hier! Die Reise<br />

in das Leben nach dem Tod beginnt.<br />

Im Rücken der Trauernden steht ein<br />

Mann, ein Beobachter, ein Zuhörer,<br />

ein Chronist, in einer versteckten<br />

115<br />

Zelle: Weniger ein Mensch als eine<br />

Membran, die die bebende Unruhe<br />

auf die auf hohen Stühlen thronenden<br />

Herrengeister überträgt, die<br />

das Land überwachen und den Weg<br />

der anderen in Kriegsgebiete, Besatzungszonen,<br />

Arbeits- und Todeslager<br />

lenken.<br />

Eine Familie, Trauernde, nähert<br />

sich vom Friedhof kommend.<br />

Schwarz gekleidet, doch nicht mehr<br />

dem Anlass entsprechend schweigend.<br />

Die Ewigkeit entlässt sie aus<br />

ihrem Griff. Sie schauen auf ihre<br />

Uhren, klappen Handys auf, rufen<br />

ein Taxi und kehren zu ihrem restlichen<br />

Tagewerk zurück. Niemand<br />

nimmt von den Gespenstern der Nazizeit<br />

Notiz.<br />

Der Friedhof selbst widerlegt aufs<br />

Beste die Idee von der (r)einrassigen<br />

Nation; Ein Volk, Ein Reich: Zwischen<br />

den moosbewachsenen Namen<br />

auf den Grabsteinen taugt die<br />

Doktrin nicht mehr. Bauermann<br />

ruht neben Czerwinka, Schindler<br />

liegt neben Koslowski. Sie bezeugen<br />

den ethnischen Mix der Migranten,<br />

die das Ruhrgebiet aufgebaut haben<br />

– Rheinländer und Polen, Slowaken<br />

und Balten, später Griechen, Türken,<br />

Italiener, Portugiesen und Koreaner.<br />

Bezeichnenderweise befand sich das<br />

größte Gefängnis der Gestapo im<br />

Dritten Reich im Ruhrgebiet: Die<br />

Dissidenten unter den Arbeitern der<br />

Region leisteten in den 1930er und<br />

1940er Jahren permanenten Widerstand<br />

gegen das NS-Regime.<br />

Heute schweigen die Zechen und<br />

Fabriken im Ruhrgebiet. Doch ihre<br />

Lektion haben sie der Welt hinterlassen:<br />

Starke Gemeinschaften entstehen<br />

nicht da, wo wir kulturelle<br />

Monotonie durch Repression und<br />

Repressalien durchsetzen, sondern wo<br />

wir das Andere zulassen und unterschiedliche<br />

Stärken bündeln.<br />

ranJit hoSkote, GEBOREN 1969 IN BOMBAy,<br />

IST KULTURKRITIKER FÜR DIE BOMBAy TIMES<br />

UND THE HINDU, DICHTER UND SEKRETäR DES<br />

INDISCHEN PEN. ER ZäHLT ZU EINER GRUPPE<br />

ENGLISCH SCHREIBENDER AUTOREN, DIE IN<br />

INDIEN ALS „DIE ZWEITE GENERATION DER<br />

POSTKOLONIALEN DICHTER INDIENS“ BE-<br />

ZEICHNET WIRD.<br />

AUS DEM ENGLISCHEN VON<br />

LILIAN-ASTRID GEESE

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