Amt und Ordination in der reformierten Kirche - reformiert-info.de

M. Freudenberg, Vom dreifachen Amt Christi zu den Diensten der christlichen Gemeinde 55
fel liegt in der Neigung, das fortdauernde Wirken Christi zu marginalisieren
und auf die Christen – etwa in Form einer Tugendlehre – zu verlagern,
eine problematische Weichenstellung. Das Erlöserwerk Christi,
das nach Calvin und den reformierten Bekenntnissen durch die Zeiten
hindurch geschieht, wird aufgespalten in Christi irdische Wirksamkeit
und eine Aktion der Christen jenseits seiner Auferstehung. Das Leben
im Geist Christi wird damit aufgelöst zur individuellen bzw. kirchlichen
Realisierung des Werkes Christi. Dennoch: Indem der einzelne Christ
nicht mehr nur Teilhaber, sondern gleichsam zum Repräsentanten der
Amtstätigkeit Christi wurde, konnte auch ein geistes- und kulturgeschichtliches
Milieu entstehen, das eine selbstbewusste Weltgestaltung
und eine politisch-aktivistische Grundhaltung zumindest mitbedingt
hat. 27 Die Ambivalenz liegt auf der Hand. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts
scheint im reformierten Pietismus die Entsprechung von Christi
heiligem Wandel und dessen Nachahmung – nicht Fortsetzung – bei
den Gläubigen fester Bestandteil der katechetischen Literatur zu sein,
wie sich etwa an Friedrich Adolf Lampes Erklärung des Heidelberger
Katechismus Milch der Wahrheit ablesen lässt. 28
3. Es lässt sich die Tendenz beobachten, im Zuge der Kombination von
Ämter- und Ständelehre die Ausführung von Christi Ämtern in eine
zeitliche Folge vom Prophetenamt über das Priesteramt zum Königsamt
zu setzen und damit zu historisieren. 29 So wurde dem irdischen
Christus das königliche und dem erhöhten Christus das prophetische
Amt abgesprochen. Letzteres begünstigte eine sich von der Christologie
ablösende Tugendlehre, die aber der Intention Calvins widerspricht,
in diesen Ämtern drei Gestalten des einen und immerwährenden
Mittleramtes Christi zu sehen. Die Aufspaltung und Historisierung
der Ämter hatte Folgen für die ekklesiologische Entsprechung zu diesen
Ämtern. Die Versuchung lag nahe, die drei Ämter als getrennte Institutionen
zu betrachten, statt in ihnen einen gemeinsamen Dienst der
ganzen Gemeinde zu erkennen.
Die Blüte der Dreiämterlehre war allzu rasch im 18. Jahrhundert
erschöpft. Das bereits erwähnte und besonders den Reformierten zugeraunte
Diktum Henkes, hier läge eine „abgedroschene, längst ausgepfiffene
Satzung der Schultheologen“ vor, steht stellvertretend für die
Zu Beginn des
18. Jahrhunderts
scheint im reformierten
Pietismus
die Entsprechung
von Christi
heiligem Wandel
und dessen
Nachahmung
bei den Gläubigen
fester Bestandteil
der katechetischen
Literatur zu sein.
27 Vgl. KARL BERNHARD HUNDESHAGEN, Über den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen vom
Staat und staatsbürgerlicher Freiheit, Bern 1842.
28 FRIEDRICH ADOLF LAMPE, Milch der Wahrheit (1721), hg. v. MATTHIAS FREUDENBERG, Rödingen
2000, 52 (Fragen 31f.).
29 Diese Tendenz ist bei Bartholomäus Keckermann und Friedrich Wendelin zu beobachten; dagegen
suchen Johann Heinrich Alstedt und Johannes Wolleb jedes der drei Ämter in beiden Ständen
nachzuweisen; vgl. HEPPE, Dogmatik, a.a.O., 355-387; KRAUß, Mittlerwerk, a.a.O.