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Bierbäuchen das Schiff plötzl<strong>ich</strong> verließen und welch eine Menge an schwangeren<br />
Siebzigjährigen es gab! Der Verdacht lag also nahe, dass eine Butterfahrt ein<br />
kulturelles Ereignis von erlesener Güte war, dem wir uns n<strong>ich</strong>t länger entziehen<br />
konnten.<br />
Das klassische Drama begann schon auf dem Bahnhof, wo ein Sonderzug wartete.<br />
Von dreihunderttausend Einwohnern der Stadt wollten scheinbar hunderttausend in<br />
den Zug. Da es s<strong>ich</strong> dabei offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> um die Elite der Bevölkerung handelte,<br />
wurde geschimpft, geschubst, geschoben und gedrängelt. Die Menge brüllte und<br />
tobte wie in einem Fußballstadion während eines Endspiels um die deutsche<br />
Meisterschaft. Unter diesen Umständen dauerte es gar n<strong>ich</strong>t lange und unsere kleine<br />
Gruppe wurde getrennt. Irgendwie sog der Zug dann Tim und m<strong>ich</strong> durch seine<br />
Türöffnung in das Innere. Hier ging das Gedränge erst r<strong>ich</strong>tig los, und an einen<br />
Sitzplatz war im Traum n<strong>ich</strong>t zu denken. Ich hob meinen kleinen Sohn hoch und trug<br />
ihn wie einen mittelalterl<strong>ich</strong>en Schild vor mir her, damit er in der Menschenmenge<br />
n<strong>ich</strong>t erstickte. Das schien der Auslöser für die nun folgenden Ereignisse zu sein.<br />
Rings um uns her entstand eine ominöse Stille. Der Pöbel musterte uns aus<br />
feindselig verkniffenen Augen und rückte von uns ab. Eine Dame in den Siebzigern<br />
keifte schließl<strong>ich</strong>: „Es ist ein Skandal, ein so kleines Kind auf eine derartige Fahrt<br />
mitzunehmen!“<br />
Es folgten noch mehrere gut gemeinte Ratschläge von anderen Mitreisenden und<br />
die verbalen Äußerungen: „Kinderschänder!“ und: „<strong>An</strong>archist!“ waren noch die<br />
harmlosesten. Ein Mann in rotem Hemd und mit gemusterten Hosenträgern drohte<br />
mir sogar mit der Faust. Bei näherem Hinsehen entpuppten s<strong>ich</strong> die Muster übrigens<br />
als Bierkrüge.<br />
„Entschuldigen Sie!“, antwortete <strong>ich</strong> schließl<strong>ich</strong>, denn mein Publikum hatte m<strong>ich</strong> in<br />
die Offensive gedrängt. Gle<strong>ich</strong>zeitig sah <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> nach meiner Frau und Carla um.<br />
Aber die hatten s<strong>ich</strong> feige in der Menschenmenge verkrochen.<br />
„Entschuldigung“, wiederholte <strong>ich</strong> zaghaft, „aber meine Frau hat m<strong>ich</strong> mit dem<br />
kleinen Kind sitzen lassen. Und außerdem wurde <strong>ich</strong> arbeitslos, weil <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> um<br />
meinen Sohn kümmern musste. Und die Wohnung wurde mir auch noch gekündigt!“<br />
Ich log immer dreister, es begann Spaß zu machen.<br />
„Deshalb“, replizierte <strong>ich</strong>, „bin <strong>ich</strong> auf die billigen Einkäufe angewiesen. Ich weiß<br />
n<strong>ich</strong>t, wie <strong>ich</strong> uns sonst durchbringen soll!“<br />
Die Augen meiner Zuhörer wurden groß und rund, die Minen we<strong>ich</strong> und mitleidige<br />
Rufe waren zu hören. Eine Sexbombe in fortgeschrittenen Jahren, bekleidet mit<br />
schwarzen Netzstrümpfen, Schuhen mit hohen, spitzen Absätzen und einem eng<br />
anliegenden bunten Kleid stand von ihrem Platz auf und bot ihn mir an. Schamlos<br />
ließ <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> mit Tim auf dem Schoß darauf nieder. Ein älterer Herr bot nun<br />
seinerseits den Platz neben mir dieser Dame an, was seine Frau mit feindseligen<br />
Blicken quittierte. Zu meiner unendl<strong>ich</strong>en Freude lehnte die Dame das <strong>An</strong>gebot n<strong>ich</strong>t<br />
ab und setzte s<strong>ich</strong>. Ob <strong>ich</strong> wollte oder n<strong>ich</strong>t, sie ließ m<strong>ich</strong> in ihren Ausschnitt<br />
schauen. Bei dem verwitterten <strong>An</strong>blick keimte der Verdacht auf, dass es s<strong>ich</strong> um eine<br />
pensionierte Mitarbeiterin des örtl<strong>ich</strong>en Rotl<strong>ich</strong>tmilieus handeln musste. Nur mit<br />
Mühe und Not machte <strong>ich</strong> ihr klar, dass Tim und <strong>ich</strong> auf dieser Fahrt keinen<br />
weibl<strong>ich</strong>en Begleitschutz, wie auch immer geartet, benötigten.