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Eine Idee und ihre Steißgeburt<br />
Sie lag vor mir, noch ganz jungfräul<strong>ich</strong> und faltenfrei. Fast zärtl<strong>ich</strong> str<strong>ich</strong> <strong>ich</strong> über ihre<br />
Seiten und fühlte die seidige Glätte. Ich atmete ihren Duft ein. Herrl<strong>ich</strong>, diese<br />
druckfrischen Presseexemplare. Mein Sonntagsritual konnte beginnen.<br />
Genussvoll wollte <strong>ich</strong> gerade anfangen, meine Lieblingszeitung zu lesen, als Mona<br />
Marie heranrauschte. Sie machte von ihrem Recht als Ehefrau Gebrauch und setzte<br />
s<strong>ich</strong> mir gegenüber an unseren großen runden E<strong>ich</strong>entisch in der Küche. Zunächst<br />
sah sie m<strong>ich</strong> nur nachdenkl<strong>ich</strong> und erwartungsvoll an. Als <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t reagierte, wurde<br />
der Ausdruck in ihren dunklen Augen mit der Zeit immer eindringl<strong>ich</strong>er und<br />
schließl<strong>ich</strong> bohrend. Da <strong>ich</strong> wusste, das Wasser niemals bergauf rinnt, und somit die<br />
Blicke Mona Maries n<strong>ich</strong>t milder würden, riss <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> schließl<strong>ich</strong> zusammen und von<br />
der Zeitung los. Betont freundl<strong>ich</strong> fragte <strong>ich</strong>: „Ist irgendetwas? Was hast du?“<br />
Darauf hatte sie offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> gewartet und setzte zu einer Erklärung an: „In der<br />
Zeitung ber<strong>ich</strong>ten alle mögl<strong>ich</strong>en Leute über s<strong>ich</strong>! Und im Fernsehen erst recht!<br />
Neuerdings auch in eBooks. Und meine Schwester Mary Lee hat für ein<br />
amerikanisches Magazin eine Serie über Ehemänner geschrieben.“<br />
„Na und?“, fragte <strong>ich</strong> alarmiert. „Mary Lee ist schließl<strong>ich</strong> Journalistin.“<br />
Ohne auf meine greifbare Skepsis einzugehen fuhr sie fort: „In einer Zeitung schreibt<br />
jemand tägl<strong>ich</strong> über seinen Hund. Viele schreiben Bücher über s<strong>ich</strong>, obwohl außer<br />
einem dümml<strong>ich</strong>en Grinsen auf dem Cover n<strong>ich</strong>t viel dabei herauskommt, was<br />
sonderl<strong>ich</strong> interessant wäre. Pöbelnde Fernsehmoderatoren schlagen Räder wie<br />
Pfaue und ber<strong>ich</strong>ten von einem Leben, das uns eher fremd ist. Millionäre geben<br />
hochgeistige Sätze von s<strong>ich</strong>, und alle mögl<strong>ich</strong>en Leute lassen s<strong>ich</strong> öffentl<strong>ich</strong> mit mehr<br />
oder weniger anspruchsvollen Partnern verkuppeln. In Fernsehsendungen quatschen<br />
die Frauen darüber, was sie gestern Abend gegessen haben und dass der Mann<br />
gern rote Socken trägt. Die Dame des Hauses wiederum gar keine. Was den Mann<br />
fürchterl<strong>ich</strong> stört und er seine Nachbarn zu einer Kampagne: „Zieht meiner Frau<br />
wenigstens grüne Socken an!“, aufruft. Das alles wird von einer Quotenqueen mit<br />
schriller Stimme und heftigen Bewegungen in einer – wenn wir Glück haben –<br />
Nachmittagssendung verkündet. Und das können wir auch!“<br />
„Was, das Verkünden?“<br />
„Nein, das Ber<strong>ich</strong>ten!“<br />
Ich starrte sie in tiefer Fassungslosigkeit an: „Wie bitte, wir sollen im Fernsehen<br />
auftreten, ungewaschene Socken schwenken und dazu auch noch unsere Nachbarn<br />
einladen??“