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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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K Ü N S T L E R<br />

John Neumeier schreibt mit seinen Choreografien seit Jahrzehnten Ballettgeschichte: etwa mit Anna Karenina, der Kleinen Meerjungfrau,<br />

rescendo: Im kommenden Februar werden Sie 80 Jahre<br />

alt. Sie haben Ihre Geburtstagssaison „Lebenslinien“<br />

überschrieben. Gerade ist auch das Ballett Nijinksy auf DVD<br />

erschienen, Ihr Porträt des Tänzers, der in Ihrem Oeuvre eine<br />

zentrale Rolle spielt. Hat er Sie zum Tanz gebracht?<br />

John Neumeier: Das wäre zu viel gesagt. Aber seine Person hat<br />

mich sicherlich sehr inspiriert. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich<br />

in der Bibliothek in meiner Heimatstadt Milwaukee ein Buch über<br />

ihn gefunden, das für mich sehr wichtig war. Bis dahin waren<br />

Tänzer für mich mystische Wesen. Das Buch erzählte von einem<br />

sehr begnadeten, aber ganz normalen Menschen. Der Probleme<br />

hatte, der eine Familie hatte, Geschwister und so weiter. Damals<br />

habe ich intuitiv begriffen, dass Tanz etwas mit Menschlichkeit zu<br />

tun hat. Nijinsky beeindruckt mich immer noch. Er gehört für<br />

mich zu den wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.<br />

Sie haben mit zehn begonnen, über Tanz zu lesen? Wie kamen<br />

Sie dazu?<br />

Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass ich immer diesen<br />

Drang zum Tanzen hatte. In den Musicalfilmen, die ich mit meiner<br />

Mutter sah, faszinierten mich die Tanzszenen, und ich fand es<br />

jedes Mal langweilig, wenn gesprochen wurde.<br />

Sie waren außerdem malerisch und zeichnerisch begabt.<br />

Das hat man schon früher entdeckt. Es war ein Konflikt in meinen<br />

jungen Jahren, dass ich nicht genau wusste, in welche Richtung ich<br />

gehen sollte. Oder musste.<br />

Wie haben Sie ihn aufgelöst?<br />

Ich glaube, es liegt auch an diesem Konflikt, dass ich Choreograf<br />

geworden bin. Ein Choreograf zeichnet mit Menschen in Raum und<br />

Zeit. An Tanz und Bewegung hat mich von Anfang an fasziniert,<br />

nicht nur zu befolgen, was ich zu lernen hatte oder was mir<br />

vorgegeben wurde, sondern selbst Kompositionen zu erschaffen.<br />

Haben Ihre Eltern es unterstützt, dass Sie so einen ausgesprochen<br />

künstlerischen Werdegang gewählt haben?<br />

Ja. Dafür bin ich sehr dankbar. Niemand in meiner Verwandtschaft<br />

war künstlerisch tätig. Außer meiner Mutter, die sehr gut nähen<br />

und Porzellan bemalen konnte.<br />

Was haben Sie denn für einen familiären Hintergrund?<br />

Mein Vater war Schiffskapitän. Er befuhr die großen Seen Amerikas.<br />

Aber er ist nicht zur Offiziersschule gegangen, sondern hat als<br />

Deckhelfer angefangen. Das war der niedrigste Rang, den es<br />

überhaupt gab. Von da hat er sich hochgearbeitet.<br />

Und dann sehen Ihre Eltern die künstlerische Begabung ihres<br />

Kindes und fördern sie.<br />

Das ist unglaublich. Sie hatten ja nicht den Hintergrund, das zu<br />

beurteilen. Es gab in Amerika zu dieser Zeit insgesamt viel weniger<br />

künstlerisches Bewusstsein als heute. Und trotzdem haben meine<br />

Eltern mir vertraut.<br />

Sie haben dann aber erst einmal Theaterwissenschaft und<br />

englische Literatur studiert.<br />

Ich glaube, ich bin an die Universität gegangen, weil meine Eltern<br />

sich Sorgen um mich gemacht haben. Aber mein Herz war immer<br />

woanders. Unser Schauspiellehrer an der Universität legte sehr viel<br />

Wert auf Bewegung. Gleich in meiner ersten Tanzstunde dort sagte<br />

er zu mir, du bist eigentlich ein Tänzer. In dem Moment war mir<br />

mein Weg klar. Er hat es für mich formuliert.<br />

Ein Instrument haben Sie nicht auch noch gespielt?<br />

Als ich eine Zeit lang nicht tanzen durfte, weil ich Schwierigkeiten<br />

mit dem Rücken hatte, haben meine Eltern gedacht, es wäre<br />

vielleicht gut, wenn ich Klavierunterricht nähme. Aber ich habe es<br />

als Qual empfunden. Leider!<br />

Woher kommt dann Ihre intensive Beschäftigung ausgerechnet<br />

mit absoluter Musik? Sie haben fast alle Sinfonien von Mahler<br />

choreografiert.<br />

Das ist ein ganz subjektives Gefühl des Hingezogenseins. Ich bin<br />

1965 zum ersten Mal intensiv mit Mahler in Berührung gekommen,<br />

als ich beim Stuttgarter Ballett war und Kenneth MacMillan<br />

sein Ballett Das Lied von der Erde machte. Die Musik hat mich<br />

einfach verblüfft. Sie bestätigte mein Gefühl, das später auch mein<br />

Konzept wurde: dass man von einer klassischen Basis ausgehen<br />

muss, aber dass die Inspiration aus der Emotion kommt. Ich habe<br />

dann als Erstes ein Lied von Mahler choreografiert, Ich bin der Welt<br />

abhanden gekommen.<br />

Bevor Sie selbst angefangen haben zu choreografieren: Haben<br />

Sie Musik einfach gehört und sich ergreifen lassen, oder hatten<br />

Sie den Impuls, das Gehörte schöpferisch zu verarbeiten?<br />

Es hat für mich schon immer zwei Arten Musik gegeben: eine, die<br />

man im Sitzen hört, und eine, die einen aus dem Stuhl reißt. Ich<br />

könnte zum Beispiel nie eine Bruckner-Sinfonie choreografieren.<br />

Weil ich sitzen bleibe. Ich kann das bewundern …<br />

… Sie können sich auch von Bruckner ergreifen lassen?<br />

Weniger. Anders. Ich beginne nicht zu tanzen.<br />

Was ist es, was Sie an Mahler speziell berührt?<br />

Mahler ist für mich der Inbegriff des Tanzes. Tanz arbeitet mit dem<br />

menschlichen Körper. Beim Ballett ist der Mensch Sujet und<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – <strong>Juli</strong> – <strong>August</strong> 20<strong>18</strong>

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