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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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WOHER KOMMEN<br />

EIGENTLICH …<br />

… die außermusikalischen Klänge im Raum ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

FOTO: PIXABY<br />

Selbst in einem schalltoten<br />

Raum gibt es noch etwas<br />

zu hören. In Cambridge an<br />

der Harvard-Universität<br />

betrat Ende der 1940er-Jahre John<br />

Cage zum ersten Mal einen solchen<br />

Raum und freute sich, einmal nichts zu hören als Stille. Als<br />

er den Raum wieder verließ, hatte er doch etwas gehört, nämlich<br />

sich selbst. „Ich hörte zwei Klänge, einen hohen und einen tiefen.<br />

Als ich dies dem Toningenieur beschrieb, klärte er mich darüber<br />

auf, dass der hohe von den Aktivitäten meines Nervensystems herrührte<br />

und der tiefe von meinem Blutkreislauf kam.“<br />

Das inspirierte Cage zu dem Stück 4’33’’. Ursprünglich<br />

für Klavier gedacht, ist das auf vier Minuten und 33 Sekunden<br />

begrenzte Stück beliebig erweiterbar, sowohl was Dauer, als auch<br />

was Instrumentation betrifft. Allein – es darf kein einziger Ton<br />

gespielt werden – drei Sätze lang tacet, Schweigen, nur Stille. Plötzlich<br />

hört man im Konzertsaal die Tonkulisse des Publikums und<br />

der Außenwelt. Neben Fassungen für Sinfonieorchester und Death<br />

Metal Band gelangte 2010, kurz vor Weihnachten, die Popversion<br />

der 40-köpfigen All-Star-Band Cage against the Machine in die<br />

britischen Charts.<br />

Cage machte hörbar, was seit Mitte des 19. Jahrhunderts den<br />

Andachtskodex eines Konzertbesuchs immer wieder durchbricht.<br />

Aus einem verzagt verzärtelten Hüsteln wird ein in der Lautstärke<br />

anschwellender, ansteckender Husten, der mehr und mehr Akzente<br />

zu setzen weiß. Das ist von solcher Vielseitigkeit, das gar vom<br />

„Röchelverzeichnis“ die Rede ist. Es folgt das vermeintlich pianissimo<br />

gehaltene Rascheln und Knistern des Hustenbonbonpapiers,<br />

Räuspern, wieder Zurechtrücken, umrahmt von den Klangbildern<br />

der betont achtsam Zuspätkommenden wie Zufrühgehenden. Bis<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings galten Opern- und andere<br />

Musikaufführungen als etwas, das zahlreicher Nebenklänge geradezu<br />

bedurfte.<br />

Zur Zeit Vivaldis wurde in Venedig die Musik von allerhand<br />

begleitet: „Viele Patrizier gingen verkleidet in’ Theater, um desto<br />

ungenierter ihre Maitressen mit in die übrigens enorm teure Loge<br />

nehmen zu können. Dort wurde gelacht und gelärmt“, und all das<br />

getan, was „Mann“ so mit seiner Maitresse tut. Des Weiteren „warf<br />

man Lichtstumpen und andere Gegenstände auf das Volk im Parterre,<br />

ja, spuckte hinab, wenn man<br />

einen kahlen Schädel sah.“<br />

Im Winter 1765/66 bereiste<br />

der englische Arzt und Autor<br />

Samuel Sharp Italien: „In Neapel,<br />

ja, in ganz Italien ist es groß in<br />

Mode, die Oper als einen Ort zu sehen, um sich zu treffen und zu<br />

plaudern, sodass man letztendlich nicht wegen der Musik kommt,<br />

sondern um, ohne jegliche Zurückhaltung, die ganze Vorstellung<br />

über zu lachen und zu reden. Man kann sich denken, dass eine<br />

Ansammlung mehrerer hundert Leute, die sich unterhalten, die<br />

Stimmen der Sänger übertönen muss. Neben dem Genuss einer<br />

lautstarken Unterhaltung bilden sich manchmal kleine Gruppen,<br />

um Karten zu spielen.“<br />

Darüber empörte sich wiederum der italienische Literaturkritiker<br />

Giuseppe Baretti und entgegnete öffentlich: „Als ob wir einen<br />

Mord begehen würden, wenn wir uns im Parkett redselig geben<br />

oder uns in den Logen zu einer Partie Karten treffen. Selbst wenn<br />

wir nicht geneigt sind zuzuhören, wären unsere Sänger äußerst<br />

unverschämt, wenn sie nicht ihr Bestes geben würden, werden sie<br />

doch für ihr Tun sehr gut bezahlt. Caffarello [gemeint ist der Kastrat<br />

Gaetano Majorano (1710–1783), von dem sein berühmter Gesangslehrer<br />

Nicola Porpora schwärmte, er sei der „größte Sänger Italiens<br />

und der ganzen Welt!“] wurde bald eines Besseren belehrt, als es ihm<br />

in den Sinn kam, auf der Bühne in Turin seine Pflicht zu vernachlässigen<br />

unter dem Vorwand, das Publikum achte nicht genügend auf<br />

seinen Gesang. Kaum war die Oper zu Ende, wurde er samt seines<br />

mazedonischen Kostüms für einige Nächte ins Gefängnis gesteckt<br />

und Abend für Abend von dort auf die Bühne gebracht, bis er sich<br />

unter wiederholten Bemühungen den Beifall aller verdient hatte.“<br />

Überall gab es „konzertimmanente Geräuschsymptome“ zu<br />

hören: „In den Theatern in Venedig wurde je nach Belieben applaudiert<br />

oder gepfiffen. Lautes, anhaltendes Lachen hörte man, schrille<br />

Töne, tiefe Bassstimmen, Kichern, Schwatzen, Miauen, Krähen,<br />

erkünsteltes Niesen, Husten, Gähnen, alles ging bunt durcheinander.“<br />

Der skandalerprobte Komponist George Antheil war sich<br />

sicher: „Wenn den Hörern ein Werk wirklich gefällt, dann husten<br />

sie weiter, rutschen hin und her, flüstern; das alles ist der normale<br />

und behagliche Hintergrund der Konzertmusik.“<br />

■<br />

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