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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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Skizze und<br />

Holz-Arche zu<br />

Luigi Nonos<br />

Il Prometeo<br />

Philips’ Pavillon von<br />

Le Corbusier zur<br />

EXPO in Brüssel<br />

1958; Aufbau von<br />

Ferruccio Busonis<br />

Fantasia contrappuntistica<br />

als Zeichnung<br />

einer Kathedrale<br />

(1910/1921)<br />

die Architekt Renzo Piano in das Gotteshaus hatte einbauen lassen.<br />

„Die Stimmen wisperten durch das Gebälk hindurch wie Geisterklänge<br />

aus der Lagune“, erinnert er sich.<br />

Überhaupt liebte die Nachkriegsavantgarde die Experimente<br />

mit Klangräumen. Für die Weltausstellung in Osaka 1970 ließ Karlheinz<br />

Stockhausen ein Kugelauditorium errichten in Anlehnung<br />

wohl an die Visionen von Alexander Skrjabin, der 1914 von einer im<br />

Wasser getauchten Klangkugel mit zwölf Toren in Indien träumte –<br />

einem Tempel voller Farben, Klänge und<br />

Düfte. In Stockhausens Konzertkugel<br />

allerdings saß das Publikum auf einem<br />

Gitterrostboden, aus dem elektroakustisch<br />

verfremdete Klänge drangen.<br />

Prägend für Stockhausen war der<br />

Bauhausarchitekt Le Corbusier (<strong>18</strong>87–<br />

1965), der selbst aus einer Musikerfamilie<br />

stammte. Musik und Architektur waren<br />

für ihn „Zeit und Raum“, die beide „vom Maß“ abhingen, weshalb<br />

er 1951 den „Modulor“ entwickelte, ein mathematisches, am Menschen<br />

orientiertes Proportionssystem. 1956 beauftragte ihn Philips<br />

mit dem Pavillon zur EXPO 1958 in Brüssel. Ein Poème électronique<br />

schwebte Le Corbusier vor. Zu den Bildprojektionen der Architekturikone<br />

erklangen Edgard Varèses (<strong>18</strong>83–1965) verfremdete Klänge,<br />

der sie dank Philips’ technischer Innovationen realisieren konnte.<br />

Über 350 Lautsprecher wanderte der Ton durch den Raum, den ein<br />

Assistent von Le Corbusier gebaut hatte: Iannis Xenakis. „Der Computer<br />

des Prometheus“ stand über seinen Nachruf 2001 in der FAZ,<br />

weil er ein Mann von drei Begabungen war: Ingenieur, Architekt und<br />

Komponist. Seinem Ziel, Architekturentwürfe mit Musikpartituren<br />

zu verbinden, verdankt der Brüsseler Pavillon auch seinen Hyperbel-Schalen-Look,<br />

der wie überdimensionale Glissandi aus seinem<br />

Orchesterstück Métastasis (1953/54) wirkt.<br />

DIE NACHKRIEGS-<br />

AVANTGARDE LIEBTE DIE<br />

EXPERIMENTE MIT<br />

KLANGRÄUMEN<br />

So eng verzahnt waren Musik und Architektur praktisch schon<br />

lange nicht mehr gewesen. Denn im <strong>18</strong>. und frühen 19. Jahrhundert<br />

beschäftigte das Thema vor allem die Philosophen: Friedrich Schelling<br />

prägte die Metapher „erstarrte Musik“ für Architektur. Kollege<br />

Schopenhauer tat diese gleich als „Witzwort“ ab, wie er das wohl<br />

auch bei den in zeitgenössischen Multimediakonzepten strapazierten<br />

Begriffen wie „Klang-Skulptur“ oder „Ton-Architektur“ getan<br />

hätte.<br />

Der psychologische Aspekt, der<br />

erstmals <strong>18</strong>19 mit Karl Wilhelm Ferdinand<br />

Solger aufkam, rückt in den Vordergrund:<br />

„Die Architectur versetzt das<br />

Gemüth ganz nach außen; die Musik<br />

zieht die Mannigfaltigkeit des äußeren<br />

Lebens in das Innere des Gemüthes<br />

hinein.“ Hector Berlioz ahnt dies und<br />

inszeniert seine Grande Messe des Morts<br />

(<strong>18</strong>37) im Pariser Invalidendom: Aus allen Ecken der Kathedrale,<br />

allen vier Himmelsrichtungen schallen sie, die vier Blechbläserchöre<br />

des gewaltigen Werkes.<br />

Das Zeitalter des Fortefortissimo, der großen Orchester, war<br />

angebrochen. Da kam die Erfindung des Schiffsbauers John Scott<br />

Russell gerade recht. Der hatte <strong>18</strong>38 die Gesetze der Strömungslehre<br />

auf die Akustik übertragen. Seine Berechnungen wurden <strong>18</strong>89 im<br />

Auditorium Building in Chicago umgesetzt.<br />

Heute braucht der Klang keinen Raum mehr, gibt es Tonstudios<br />

und synthetisches Echo. Dennoch werden weiter Konzertsäle<br />

gebaut. „Kann ein Architekt die klassische Musik retten?“, fragte<br />

sich 2011 die New York Times bei der Eröffnung von Frank Gehrys<br />

New World Center in Miami. Eine Frage, die Le Corbusier nicht<br />

verstanden hätte, war ihm doch die Architektur Musik und die<br />

Musik Architektur. <br />

■<br />

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