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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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K Ü N S T L E R<br />

DIRIGENT<br />

MIT INSTRUMENT<br />

Joshua Bell ist seit Jahrzehnten ein Star der Violine. Seit 2011 leitet er auch die<br />

berühmte Academy of St Martin in the Fields – vom Instrument aus!<br />

VON WALTER WEIDRINGER<br />

rescendo: Herr Bell, immer mehr Solisten dirigieren<br />

auch. Ist diese Doppelfunktion von der Violine aus<br />

schwieriger?<br />

Joshua Bell: Ich finde es sogar leichter! Als Dirigent muss man Informationen<br />

übermitteln. Ob das mit einem Taktstock, mit dem Bogen<br />

oder mit bloßen Händen passiert, ist eigentlich egal. Über 90 Prozent<br />

dieser Informationen kann man in den Proben sprechen, dort<br />

findet die Arbeit statt. Bei der Aufführung<br />

muss man ohne Worte<br />

auskommen. Der Konzertmeister<br />

ist nicht ohne Grund ein Geiger: Er<br />

kann alle wichtigen Dinge anzeigen<br />

– etwa mit der Attacke und<br />

Geschwindigkeit des Bogens. Die<br />

Academy kennt mich sehr gut,<br />

wenn wir zusammen Sinfonien<br />

aufführen, leite ich vom Konzertmeisterpult aus. Als Solist wird<br />

man dann „nur“ zu einer Art von besonderem Konzertmeister.<br />

Ohne Dirigenten hören die Musiker einander besser zu, es fühlt<br />

sich an wie Kammermusik. Und ich kann jetzt jedem wichtigen<br />

Detail selbst nachgehen. Nach so vielen Jahren als Nur-Solist ist das<br />

ein besonderes Vergnügen.<br />

Gibt es musikalische Grenzen, also bestimmte Violinkonzerte,<br />

die kaum mehr möglich sind ohne externen Koordinator?<br />

Letztes Jahr haben wir Tschaikowsky gespielt, mit kleinerem<br />

Orchester finde ich das sogar kraftvoller, pointierter. Dieses Jahr<br />

folgt Henryk Wieniawskis Zweites Violinkonzert, das ich besonders<br />

liebe. Es ist schwierig, aber es funktioniert. Bei den Proms kommt<br />

in diesem Sommer das Dritte Violinkonzert von Camille Saint-<br />

Saëns, außerdem möchte ich Sibelius angehen, vielleicht auch<br />

Barber. Weil die Academy so gut ist, steht uns praktisch alles offen,<br />

wenn wir nur wollen.<br />

Die Basis dafür bildet wohl Ihr kammermusikalisches Selbstverständnis<br />

– das Vermächtnis von Sir Neville Marriner?<br />

Ja, bei uns lehnt sich niemand zurück und spult bloß etwas ab,<br />

damit könnte man gar nicht durchkommen. In einem kleineren<br />

Ensemble ist das Verantwortungsgefühl ungleich höher. Für Sir<br />

Neville, der die Academy 1958 gegründet und mehr als 50 Jahre<br />

lang geleitet hat, war höchste Qualität entscheidend, von Anfang<br />

an. Ich möchte nicht explizit in seine Fußstapfen treten oder mich<br />

mit ihm messen. Mein Zugang ist, das optimal zu verwirklichen,<br />

was ich an Energie und persönlicher Musizierweise einbringen<br />

kann.<br />

Sie haben jetzt mit der Academy Musik von Max Bruch aufgenommen<br />

– ohne Dirigenten. Sein Erstes Violinkonzert haben Sie<br />

schon einmal mit der Academy eingespielt. Wie kam es dazu?<br />

Ach, ich war damals <strong>18</strong> und alles war ganz neu für mich. Es standen<br />

„DER KONZERTMEISTER IST NICHT OHNE<br />

GRUND EIN GEIGER: ER KANN ALLE<br />

WICHTIGEN DINGE ANZEIGEN“<br />

gleich zwei Alben auf dem Plan, eines mit kurzen Virtuosenstücken,<br />

das andere mit Neville Marriner und der Academy. Ich kam<br />

ins Studio, das rote Licht ging an und wir spielten die Konzerte von<br />

Mendelssohn und Bruch – ohne Probe! Das Mendelssohn-Konzert<br />

habe ich Jahre später mit Roger Norrington nochmals aufgenommen,<br />

aber zum Bruch-Konzert, das ich liebe und gerne spiele, bin<br />

ich für eine Aufnahme erst jetzt zurückgekehrt. Ich kombiniere es<br />

diesmal mit einer Aufnahme-Premiere<br />

für mich, seiner Schottischen<br />

Fantasie.<br />

Max Bruch sah sich immer im<br />

Schatten von Brahms und hat<br />

darunter gelitten, dass seine<br />

Violinkonzerte Nr. 2 und 3 nicht<br />

die gleiche Popularität erringen<br />

konnten.<br />

Bruchs Pech war, dass ihm mit dem ersten Konzert ein Geniestreich<br />

gelungen ist. Die anderen sind zwar auch gut, aber ich habe<br />

sie bisher nicht aufgeführt. Vielleicht sollte ich ihnen noch eine<br />

Chance geben – immerhin habe ich die Qualitäten des Schumann-<br />

Konzerts auch erst auf den zweiten Blick entdeckt.<br />

Der Schottischen Fantasie begegnet man dafür nur noch selten.<br />

Meine Idole wie Jascha Heifetz und Bronisław Huberman, dessen<br />

Geige ich spiele, hatten sie selbstverständlich im Repertoire. Ich<br />

weiß nicht, ich vertraue meiner Mutter: Sie sagt, alle jungen Geiger<br />

auf Youtube würden die Fantasie spielen. Aber das ist genau das<br />

Problem: So viele junge Leute lernen dieses und ähnliche Stücke<br />

im Studium. Sobald sie Profis sind, wollen sie etwas anderes<br />

machen. Sogar das Mendelssohn-Konzert leidet ein bisschen<br />

darunter, eines der größten Werke für die Violine überhaupt. Die<br />

Schottische Fantasie rührt mich zu Tränen, durch ihr Sentiment<br />

und ihre Schönheit. Mein Lehrer Josef Gingold, ein Schüler von<br />

Ysaÿe, hat in mir die Zuneigung zu diesem Repertoire geweckt.<br />

Auch Wieniawski oder Fritz Kreisler haben bedeutungsvolle Musik<br />

geschrieben. Natürlich, wenn man es wie Schlagsahne spielt, dann<br />

klingt es auch wie Schlagsahne. Aber musikalische Tiefe gibt es<br />

nicht nur bei Brahms, Mozart oder Beethoven.<br />

Viele Interpreten leiden beim Anhören der eigenen Aufnahmen.<br />

Sie können sich selbst auch noch in einer TV-Serie sehen, in<br />

Mozart in the Jungle. Was ist schlimmer?<br />

Ha ha, wenn ich ehrlich sein soll: Ich habe die Serie nie angeschaut.<br />

Wahrscheinlich ist es wirklich schlimmer, sich<br />

auch noch beim Schauspielen beobachten zu<br />

müssen. Meine Selbstkritik ist gnadenlos!<br />

Bruch: „Scottish Fantasy“, Joshua Bell, Academy of St Martin in the<br />

Fields (Sony)<br />

■<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – <strong>Juli</strong> – <strong>August</strong> 20<strong>18</strong>

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