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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

NICHTS FÜR ASKETEN!<br />

Große Dirigenten in großen Editionen: Cluytens, Keilberth, Rosbaud und Stokowski<br />

in umfangreichen Klangporträts.<br />

Was sich bei heutigen Dirigenten in kaum einem Fall<br />

lohnen dürfte, ist bei den großen Maestri des<br />

20. Jahrhunderts von großem Reiz – nicht nur für<br />

Sammler, sondern für alle, die sich für die einst so<br />

vielfältig blühende Kunst des Dirigierens interessieren: Kompletteditionen,<br />

wie sie vor allem von den Major Labels Sony, Universal<br />

und Warner zunehmend auf den Markt gebracht werden. Da findet<br />

sich dann vieles erstmals auf CD, darunter einiges an echten Repertoire-Raritäten,<br />

und so manche Aufnahme wird überhaupt zum ersten<br />

Mal veröffentlicht.<br />

Nach den umfassenden RCA-Editionen der beiden in den USA<br />

zu überragendem Erfolg gekommenen französischen Meisterdirigenten<br />

Pierre Monteux und Charles Munch ist es nun der in Antwerpen<br />

geborene Belgier André Cluytens (1905–67), den Warner mit<br />

seinen kompletten Orchester- und Konzertaufnahmen vorstellt (also<br />

auch mit Vokalwerken jenseits der Opern). Cluytens war eine mitreißende,<br />

extrovertiert humorvolle Persönlichkeit, und im französischen<br />

Repertoire zählt er – mit einer Grundtendenz zu aufgeraut<br />

dunklem Klang und wilder Geradlinigkeit – besonders bei Roussel<br />

und Ravel, aber auch bei Berlioz und Franck zu den zeitlosen Klassikern.<br />

Darüber hinaus hat sein Beethoven-Sinfonien-<br />

Zyklus – der erste komplette, den die Berliner Philharmoniker<br />

auf Platte einspielten – mit seiner eleganten<br />

Frische Geschichte geschrieben. Auch die<br />

russische Musik des „Mächtigen Häufleins“ war bei<br />

ihm in idiomsicheren Händen. Und dann finden sich<br />

in dieser mit einem exzellenten Einführungs-Essay<br />

ausgestatteten 65-CD-Box viele hochkarätige<br />

Spezialitäten wie die beiden Schostakowitsch-<br />

Klavierkonzerte mit dem Komponisten am Klavier,<br />

überwältigende Aufnahmen mit Emil<br />

Gilels oder David Oistrach und vielleicht als<br />

eigentlicher Höhepunkt die einzige Komplettaufnahme<br />

von Debussy/D’Annunzios Le Martyre<br />

de St. Sébastien mit den gesamten Rezitationen,<br />

zum Glück in der etwas entkitschten Version<br />

von Véra Korène. Das ganze französische Pathos<br />

der Empörungskunst wird mit entflammter Leidenschaft<br />

aufgefahren, dazwischen darf Debussys geniale<br />

Musik ihre Lichtstrahlen aussenden. Man kann<br />

diese Anthologie nur rundweg empfehlen.<br />

Weniger mit Ruhm bekleckert sich Warner mit der Sammlung<br />

„The Telefunken Recordings 1953–63“ des großen deutschen Dirigenten<br />

Joseph Keilberth, denn: Der Titel ist irreführend, es ist keine<br />

komplette Kompilation, und leider fehlen vor allem wichtige Raritäten<br />

von Hans Pfitzner oder Jakov Gotovac. Eine vertane Chance. Die<br />

vorhandenen 22 CDs zeugen von einer Höhe klassisch ausgewogenen,<br />

hingebungsvoll brillanten Musizierens, die in ihrer lebendigen<br />

Kraft und Feinheit andere Kapellmeisterkollegen wie Günter Wand<br />

oder Wolfgang Sawallisch auf ihre Plätze verweist. Keilberth muss in<br />

Sinfonien Mozarts, Beethovens oder Brahms’ als einer der Großen<br />

gelten. Auch für die Interpretation der Musik Dvořáks, die seine aus<br />

Böhmen mit ihm emigrierten Bamberger Symphoniker so herrlich<br />

ursprünglich verstanden, und besonders für Reger oder Hindemith<br />

sind seine Beiträge geradezu epochal.<br />

Ähnliches ist auch über die Konzertmitschnitte des großen<br />

Hans Rosbaud am Pult des Sinfonieorchesters des Südwestfunks in<br />

Baden-Baden zu sagen, die nun von SWR Classic veröffentlicht werden,<br />

darunter eine Haydn-Box (7 CDs) und die Sinfonien Nr. 2–9<br />

von Bruckner. Kein späterer Chefdirigent hat dieses Niveau erreicht.<br />

Universal hatte zuletzt wunderbare Anthologien von Victor de<br />

Sabata (Deutsche Grammophon) und Carl Schuricht<br />

(Decca) veröffentlicht, und nun sind in adäquat mondäner<br />

Aufmachung sämtliche Decca-Aufnahmen von Leopold<br />

Stokowski in Phase-4-Stereo auf 22 CDs erschienen. Vieles<br />

davon gehört zum Besten in der Schallplattengeschichte,<br />

so vor allem die Mussorgsky-Orchestrationen des unübertroffenen<br />

Klangzauberers, aber auch Beethovens<br />

7. und 9. Sinfonie, Elgars Enigma<br />

Variations, Skriabins Poème de l’extase, Strawinsky,<br />

Rimsky-Korsakov, Borodin, Tschaikowsky,<br />

Messiaen und die so umstrittenen<br />

wie mitreißenden Bach-Transkriptionen für<br />

großes Orchester. Wer kein strenger<br />

Asket ist, sollte hier unbedingt<br />

zugreifen.<br />

n<br />

A. Cluytens: „The Complete Orchestral & Concerto<br />

Recordings“ (Erato); J. Keilberth: „The Telefunken Recordings<br />

1953–63“ (Warner); H. Rosbaud: „Haydn/<br />

Bruckner Sinfonien“ (SWR Classic); L. Stokowski:<br />

„Complete Decca Recordings“ (Decca)<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – <strong>Juli</strong> – <strong>August</strong> 20<strong>18</strong>

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