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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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K Ü N S T L E R<br />

Ray Chen möchte<br />

dem Publikum mit<br />

seiner Musik zum<br />

Freund werden.<br />

FOTO: SOPHIE ZHAI<br />

romantischen Repertoire widerspiegelt. Ich bin jemand, der mit<br />

dem Herzen entscheidet und lebt. Mein Vater hat mir immer<br />

gesagt: Es geht nicht darum, Recht zu haben. Es geht nicht um<br />

Logik. Es geht um das Gefühl. Und was für Beziehungen gilt, gilt<br />

bei mir auch für die Musik.<br />

Auf Ihrem neuen Album beschwören Sie die Goldenen 20er-<br />

Jahre und spielen neben dem Violinkonzert von Bruch Stücke<br />

wie Summertime von Gershwin oder Schön Rosmarin von<br />

Kreisler. Wie kam es dazu?<br />

Das Goldene Zeitalter hat mich schon<br />

„ICH LIEBE DEN<br />

NOSTALGISCHEN CHARME<br />

EINER VINYL-SCHALLPLATTE,<br />

DAS LEICHTE KRATZEN DER<br />

NADEL, BEVOR DER ERSTE<br />

TON ERKLINGT“<br />

immer fasziniert. David Oistrach, Fritz<br />

Kreisler, Jascha Heifetz … all die großen<br />

Geiger lebten damals. Das war eine Zeit<br />

voller Kreativität und Atmosphäre! Ich<br />

liebe den nostalgischen Charme einer<br />

Vinyl-Schallplatte und das leichte Kratzen<br />

der Nadel, bevor der erste Ton<br />

erklingt. Es hat großen Spaß gemacht,<br />

mich für das Album ganz in diese Klangwelt<br />

hineinzubegeben.<br />

Sie bespielen einen eigenen Youtube-Kanal, haben über 137.000<br />

Follower auf Facebook und 65.000 auf Instagram. Kaum ein<br />

klassischer Musiker nutzt die sozialen Medien so intensiv wie<br />

Sie. Wird Ihnen das nicht manchmal zu viel?<br />

Das Gute an den sozialen Medien ist ja, dass man selbst entscheiden<br />

kann, wie oft man etwas postet. Fakt ist: Die Welt verändert<br />

sich, und die sozialen Medien sind ein Werkzeug, das wir nicht<br />

einfach so ignorieren können. Wir können natürlich darüber<br />

philosophieren, ob das gut ist oder nicht. Aber wenn man die<br />

sozialen Medien außen vor lässt, dann verliert man eine ganze<br />

Generation! Für mich sind die sozialen Medien eine großartige<br />

Möglichkeit, um gerade jüngere Leute zu erreichen. Dazu muss<br />

man erst einmal ihre Aufmerksamkeit gewinnen. Ich spreche auf<br />

meinem Facebook-Profil über Musik, stelle philosophische<br />

Fragen, trete als Lehrer auf oder mache einfach nur Comedy …<br />

Dann stecken Sie zum Beispiel eine Geige in die Waschmaschine<br />

und holen ein geschrumpftes Exemplar wieder heraus.<br />

Haben Sie da manchmal Sorge, nicht mehr als seriös wahrgenommen<br />

zu werden?<br />

Wir klassischen Musiker sind die ganze Zeit über damit beschäftigt,<br />

möglichst seriös zu wirken. Auf der Bühne will ich das natürlich<br />

auch, und ich würde zum Beispiel nie einen Witz über Bruchs<br />

Violinkonzert machen. Aber ich glaube, dass mich die Menschen,<br />

die mich als Musiker lieben, auch als Person kennenlernen<br />

wollen. Und dazu gehört eben auch mein Humor.<br />

Wie wichtig ist das Publikum für Sie?<br />

Das Publikum begleitet mich Tag für Tag auf meinem Weg und<br />

ist sehr wichtig für mich. Viele Künstler<br />

wollen keine Schwäche zeigen. Ich sehe<br />

das anders. Ich wende mich an mein<br />

Publikum und sage: Was ihr da hört, ist<br />

die beste Version von mir – heute – und<br />

ihr könnt mich begleiten, wenn ich mich<br />

weiterentwickele. Im Laufe dieses<br />

Prozesses wachsen das Publikum und<br />

ich immer enger zusammen. Das<br />

Schlimmste wäre es für mich, stehen zu<br />

bleiben. Sei du selbst, entwickle dich<br />

weiter und kopiere dich nicht – das ist mein Motto. Natürlich<br />

könnte ich auch einfach nur meinen Job machen, auf die Bühne<br />

gehen, spielen und wieder gehen. Aber das ist mir zu wenig.<br />

Welches Ziel verfolgen Sie stattdessen?<br />

Das hat sich geändert. Am Anfang meiner Karriere habe ich<br />

hauptsächlich gespielt und geübt. Mittlerweile denke ich immer<br />

mehr über meine Rolle nach. Warum bin ich hier? Welchen Sinn<br />

hat das, was ich tue? Das beschäftigt mich sehr. Ich will mit der<br />

Musik etwas Größeres erreichen und für die Menschen, die mir<br />

zuhören, zum Freund werden, der versteht, wie sie sich fühlen.<br />

Ich will nicht als Genie angebetet, sondern als normaler Mensch<br />

wahrgenommen werden, der gerne lacht, dem das Üben auch mal<br />

keinen Spaß macht und der intensiv an sich<br />

arbeitet. Im besten Fall kann ich dadurch ein<br />

Vorbild sein.<br />

„The Golden Age“, Ray Chen (DECCA)<br />

■<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – <strong>Juli</strong> – <strong>August</strong> 20<strong>18</strong>

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