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CRESCENDO 4/18 Juni-Juli-August 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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Interviews unter anderem mit John Neumeier, Sophie Pacini, Hans Sigl und David Aaron Carpenter.

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M U S I K & R A U M<br />

Tempelanlagen von<br />

Paestum; San Marco in<br />

Venedig; Kuppel des<br />

Doms von Florenz;<br />

Pariser Invalidendom;<br />

Stockhausens Kugelauditorium<br />

bei der Weltausstellung<br />

in Osaka 1970<br />

monie von Zahlen durchzogen und<br />

lasse sich durch Zahlen abstrahieren,<br />

prägte die folgenden Epochen.<br />

Als Vitruv um 100 v. Chr. sein<br />

Traktat De architectura libri decem<br />

herausgibt, verlangt er vom Architekten<br />

sogar, „etwas von Musik“ zu<br />

verstehen „damit er über die Theorie des Klanges und die mathematischen<br />

Verhältnisse der Töne Bescheid weiß“.<br />

Nicht nur die antiken Baumeister unterwarfen ihre Bauten harmonischen<br />

Proportionen, wie die griechischen Tempelanlagen von<br />

Paestum (um 540 v. Chr.) zeigen. Auch im christlichen Mittelalter<br />

und der Renaissance bleiben Musik und Architektur „Schwestern“<br />

im Geiste – wie Le Corbusier es später formulieren wird –, verbunden<br />

durch ein mystisches Zahlenverhältnis: den Goldenen Schnitt.<br />

Ihm zufolge werden, sei es in einer Fuge von Bach oder in einem<br />

Kirchenraum, zwei Größen als harmonisch empfunden, wenn der<br />

kleinere Teil sich zu dem Größeren so verhält wie der Größere zur<br />

Summe beider. Mathematisch ausgedrückt heißt das 1:1,6<strong>18</strong>. Entdeckt<br />

hatten Theoretiker dies in der Architektur der Natur. Ob beim<br />

Blätteraufbau des Gänseblümchens oder beim Menschen: Überall<br />

fanden sie ähnliche Proportionen. Sogar der Bauchnabel eines<br />

Menschen gehorcht dieser „proportio divina“ und liegt nicht mittig,<br />

sondern bei exakt 61,8 Prozent der Körpergröße, wie übrigens auch<br />

der Querbalken des christlichen Kreuzes. Die reine pythagoreische<br />

Quinte 2:3 kommt übrigens dem Goldenen Schnitt bereits nahe, die<br />

kleine Sexte mit 5:8 noch mehr.<br />

Frappierend, wie sehr diese Zahlenproportionen im Bewusstsein<br />

der schöpferischen Menschen damals verankert waren, so auch bei<br />

Guillaume Dufay (1400–1474). Man könnte meinen, er hätte beim<br />

Komponieren seiner Motette Nuper rosarum flores zur Weihe des Florentiner<br />

Doms 1436 den Bauplan vor sich gehabt. Aufgebaut, so David<br />

SCHON DIE ALTEN GRIECHEN WUSS-<br />

TEN, DASS DIE LÄNGENVERHÄLTNISSE<br />

VIBRIERENDER SAITEN DIE GLEICHEN<br />

SIND WIE DIE IM GOLDENEN SCHNITT<br />

Fallows, ist das Werk „auf zwei tieferen<br />

Stimmen … die viermal mit<br />

verschiedener Geschwindigkeit in<br />

einem Längenverhältnis von 6:4:2:3<br />

auftreten – das entspricht dem Verhältnis<br />

von Schiff, Vierung, Apsis<br />

und Höhe der Kuppel im Dom“.<br />

Umgekehrt folgte die Architektur immer auch den Erkenntnissen<br />

der Musiktheorie. Als unter anderem Gioseffo Zarlino in Le<br />

istituzioni armoniche (1558) die Terzen und Sexten für harmonisch<br />

und konsonant erklärte, fanden sie sich auch in den Villen-Entwürfen<br />

des Andrea Palladio (1508–1580) wieder. 1567 schreibt Palladio<br />

zu seiner Kathedrale von Brescia: „Die Proportionen der Stimmen<br />

sind Harmonien für das Ohr, diejenigen der räumlichen Maße für<br />

das Auge. Solche Harmonien geben uns ein Gefühl der Beglückung,<br />

aber niemand weiß, warum, außer dem, der nach den Ursachen<br />

der Dinge forscht.“ Nur wenige Jahrzehnte später widmet sich der<br />

As tronom Johannes Kepler (1571–1630) den Gesetzen, die die Planeten<br />

bewegen, und den Harmonien des Weltalls.<br />

In jener Zeit reist der junge Heinrich Schütz nach Venedig<br />

zu Giovanni Gabrieli (1557–1612). Auf den gegenüberliegenden<br />

Emporen von San Marco experimentieren sie mit Klanggruppen,<br />

lassen sie mit- und gegeneinander musizieren. Aus dem Hoch und<br />

Tief, dem Fern und Nah entwickelt sich nicht nur das barocke Concerto-grosso-Prinzip,<br />

sondern auch die akustische Wahrnehmung<br />

des Raumes, die bis heute eine große Rolle spielt. Tief beeindruckt<br />

kehrt Schütz zurück und komponiert 1619 seine Psalmen Davids.<br />

Obwohl in den Partituren jener Zeit jeder Hinweis fehlte, ordnet er<br />

an, die Chöre „an unterschiedlichen Örthern“ zu postieren.<br />

Nicht weit von San Marco liegt die Renaissancekirche San<br />

Lorenzo von 1595. Fast 400 Jahre später, 1984, wurde hier Luigi<br />

Nonos Il Prometeo uraufgeführt. In einer dreistöckigen Holz-Arche,<br />

FOTOS: NORBERT NAGEL, RICARDO ANDRÉ FRANTZ, DENNIS JARVIS, ARCHIV DER STOCKHAUSEN-STIFTUNG FÜR MUSIK KÜRTEN (WWW.KARLHEINZSTOCKHAUSEN.ORG), WOUTER HAGENS, FERRUCCIO BUSONI<br />

78 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – <strong>Juli</strong> – <strong>August</strong> 20<strong>18</strong>

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