2014-04
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Aus dem Siegerland<br />
Eine kleine Abhandlung über die zeit<br />
Zeit – für mich ein magisches<br />
Wort, ein abstrakter<br />
Begriff, denn ich<br />
kann Zeit weder sehen noch hören<br />
noch fühlen. Interessanterweise<br />
kann ich sie spüren, wenn<br />
ich unter Zeitdruck stehe und<br />
sie mir im Nacken sitzt. Zeit ist<br />
Schicksalsträger für Menschen.<br />
Die Zeit, über die Rose Ausländer<br />
in einem Gedicht sagt:<br />
„Die gute alte Zeit!<br />
Die Zeit ist weder gut noch<br />
alt, noch jung noch böse. Die<br />
Zeit ist nicht, wir sind die<br />
Zeit, gut, böse, jung, alt. Unser<br />
Ungemach schieben wir<br />
der Zeit in die Schuhe, die sie<br />
nicht hat, weil sie keine Füße<br />
hat, weil sie nicht existiert.<br />
Die Zeit ist unser Sündenbock,<br />
die arme zeitlose Zeit“<br />
Silvester ist für mich eine<br />
Zeitwende. Ich drehe das Blatt um und habe eine leere Seite<br />
vor mit. Das neue Jahr ist für mich unberührt. Gewiss,<br />
Vergangenheit und Gegenwart spielen mit hinein, aber ich<br />
kann mich in die Zukunft wieder orientieren. Was hat sich<br />
bewährt, was kann ich ändern?Als älterer Mensch frage ich<br />
mich natürlich manchmal, wo habe ich eine Zukunft? Aber<br />
dennoch! Es gibt einen Zeitgeist und eine Zeitkultur. Ich<br />
treibe schon fast einen Kult mit der mir noch verbleibenden<br />
Zeit. Ich gestalte sie, lasse sie nicht mehr gerne stehen,<br />
vergeude sie möglichst nicht. Nur, was ich nicht kann ist sie<br />
anhalten. Ich möchte mit Goethe zum Augenblick sagen:<br />
Verweile doch, du bist so schön. Der eingefangene Moment<br />
wird schal, welkt dahin und erstarrt.<br />
Was ich kann ist in der Erinnerung verlorene Zeit wiederfinden<br />
und sie so festhalten, wie Marcel Proust es so<br />
wunderbar erzählt in einem Roman: „Die wiedergefundene<br />
Zeit“, ein unvergängliches Denkmal für Zeit und Erinnerung.<br />
Jedoch, wie ich in einer wissenschaftlichen Abhandlung las,<br />
verändert sich die Erinnerung bei jedem Abruf. Ich verfälsche<br />
sie durch meine jeweilige Situation, durch meinen Gemütszustand<br />
und meinen Empfindungen. Sie ist nie pur.<br />
Eine völlig andere Erfahrung würden wir machen, wenn<br />
wir uns in der Nähe schwarzer Löcher im Universum befänden.<br />
Die schwarzen Löcher verzerren den normalen Zeitablauf<br />
mit dem Schwerefeld. Je näher man ihnen kommt, umso<br />
langsamer gehen die Uhren, und nahe ihrer Oberfläche bleibt<br />
die Zeit sogar stehen. Oft bin ich froh, dass ich Zeit auch löschen<br />
kann, durch verdrängen, wenn auch nicht für immer.<br />
Foto: Rita Perti<br />
Zeit scheint unbeteiligt,<br />
aber sie hinterlässt Spuren.<br />
Ich sehe sie an mir,<br />
jeden Tag. Sie bekommt<br />
ihre Prägung durch herausragende<br />
Ergebnisse.<br />
An uns huscht sie vorüber,<br />
aber berühmte Frauen und<br />
Männer treten in sie ein,<br />
lassen sie aufhorchen und<br />
werden in ihr verewigt.<br />
Oft ist auch von zeitlosen<br />
Dingen die Rede, z.B. von<br />
ganz bestimmten Moden<br />
und Stilrichtungen. Wir<br />
begreifen die Zeit als eine<br />
Linie, die in eine Richtung<br />
fortschreitet. Weil sie linear<br />
ist, können wir sie einteilen.<br />
In der Metaphysik<br />
geht man allerdings davon<br />
aus, dass die Zeit kreisförmig<br />
verläuft und Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft sich synchron zueinander<br />
verhalten.<br />
Bis circa 1500 n.Chr. war das Zeitverhältnis nicht linear,<br />
sondern zyklisch. Es orientiert sich fast ausschließlich an<br />
der Natur. Das Wort „Zeit“ ist eigentlich erst seit dem 18.<br />
Jahrhundert in Mode. Mit der beginnenden Renaissance<br />
ging das Zeitverständnis in der Hauptsache von den norditalienischen<br />
Handelsstädten aus. Zeit war plötzlich ein<br />
Kalkulationsfaktor bei Gewinnberechnungen. Man wollte<br />
sie effektiv nutzen, also musste man sie einteilen. Die mechanische<br />
Uhr wurde entwickelt. Bis dato lebte der Mensch<br />
im Jetzt, im gegenwärtigen Moment. Mit der Uhr wurde<br />
quasi die Zukunft eingeführt. Da es in der heutigen Zeit<br />
um absolute Gewinnmaximierung durch Beschleunigung<br />
der Arbeitsvorgänge geht, ist das Trachten der Menschen<br />
nur noch auf die Zukunft gerichtet. Wir gehen von der Vorstellung<br />
aus, dass wir über Arbeit und Verzicht zu Gottgefälligkeit,<br />
Zufriedenheit und zu Reichtum in der Zukunft<br />
kommen. Das macht die Gegenwart natürlich leer.<br />
Was die Beschleunigung betrifft, entwickelt sich angeblich<br />
langsam ein gegenläufiger Trend, da die Möglichkeit<br />
der Beschleunigung schon fast ausgereizt ist. Das Kriterium<br />
der Zukunft wird wieder die gute Qualität sein und die<br />
erfordert Gründlichkeit.<br />
In einem Aufsatz von Marianne Gronemeyer las ich,<br />
dass der Keim der Beschleunigung in der Vorrenaissance,<br />
in der Zeit der schwarzen Pest gelegt wurde, exakt 1348.<br />
Das Massensterben bedeutete eine tiefgreifende Erschütte-<br />
46 durchblick 4/<strong>2014</strong>