2014-04
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Gesellschaft<br />
schnittsnoten in der Quinta so schlecht, dass die Hälfte der<br />
Klasse sitzen blieb. Ich war einer davon. Da ich wie immer für<br />
mich entscheiden musste, habe ich mich auf dem Gymnasium<br />
wieder abgemeldet mit dem Vermerk „der Schüler Eberhard<br />
Wagner verlässt die Anstalt auf eigenen Wunsch.“<br />
Meine ehemaligen Schüler haben mich mit Freude wieder<br />
aufgenommen. Ich bin sicher, wenn ich auch nur ein wenig<br />
Unterstützung in der Familie gefunden hätte, ich hätte es geschafft.<br />
Aber ich hatte keine Chance, das Lernen zu lernen.<br />
Gemeinschaftliches Lernen gab es noch nicht, Nachhilfe<br />
wurde nur privat vermittelt. Ich hatte keinen ruhigen Ort in<br />
der Wohnung, an dem ich ungestört sein konnte, um mich<br />
auf die Schule und das Lernen zu konzentrieren. Und ich<br />
hatte auch sehr wenig Kraft, um mich durchzusetzen. Meine<br />
Eltern haben sich nicht bemüht oder sich darüber Gedanken<br />
gemacht. Es hat sie nicht interessiert.<br />
Die „großen“ Ferien haben wir überwiegend wochenweise<br />
im Wechsel bei den Großeltern in Erndtebrück verbracht.<br />
Es war jedes Mal eine aufregende Zeit mit vielen<br />
neuen Eindrücken und schönen Augenblicken. Die Realität<br />
holte uns aber schnell wieder ein.<br />
Vater vertrank jetzt regelmäßig Teile seines Lohnes. Zu der<br />
Zeit bekam man den Lohn zwei Mal monatlich bar in der so<br />
genannten Lohntüte ausbezahlt.Anstatt dass Mutter sich dann<br />
auf den Weg machte und ihren Mann abholte, hat sie uns geschickt.<br />
Uns, das waren meistens Peter und ich, die Jüngsten.<br />
Aber Vater hat den Braten gerochen, sich schnell über<br />
die Bahngleise geschlichen und war verschwunden. Die<br />
ganze Familie hat unter der Trunksucht gelitten. Vor allem<br />
wenn Vater nachts nach Hause kam und randalierte. Oft<br />
wurde er Mutter gegenüber handgreiflich. Es war einfach<br />
nur ekelhaft. Ganz furchtbar wurde es für mich und meinen<br />
Bruder Peter, wenn wir von Mutter nachts geschickt wurden,<br />
um Vater in den einschlägigen Saufkneipen zu suchen.<br />
Eine Schilderung verweigere ich an der Stelle. Es hat uns<br />
über Jahre unserer frühen Kindheit begleitet.<br />
Die Jahre 13 – 16<br />
Sport war die einzige Chance, um einen kleinen Ausgleich<br />
zu schaffen.Aber es mangelte ja an allem, auch dafür<br />
war das Geld nicht da. Es reichte uns nicht mehr, nur vor<br />
der Türe zu bolzen. Wir wollten in einem Verein spielen<br />
wie unsere Freunde. Also haben wir, meine Brüder und ich,<br />
in allen Ferien in der Hainer Hütte Eisenrückstände von<br />
der heißen Schlacke abgeschlagen und in Schubkarren zum<br />
Eisenhändler gefahren. Wir waren gut organisiert und eingeübt,<br />
hatten unsere Claims abgesteckt. Das Geld haben wir<br />
eisern gespart und konnten uns am Ende des Jahres ein paar<br />
Sportklamotten leisten. Ich habe mir noch ein gebrauchtes<br />
Fahrrad gekauft und konnte jetzt zwei- bis dreimal wöchentlich<br />
zum Fußballtraining ins Stadion fahren.<br />
Meine Eltern haben es nicht einmal geschafft, zu einem<br />
Spiel meiner Jugendmannschaft ins Stadion zu kommen.<br />
Ich habe bestimmt über Jahre Fußball gespielt, sie haben<br />
mich oder Peter nie spielen sehen. Irgendwann habe ich<br />
den Gedanken aufgegeben, als Kind wichtig zu sein und<br />
habe mir den Frust mit dem Ball von der Seele geschossen.<br />
Ich war nun beinahe 14 und in der Abschlussklasse der<br />
damaligen Volksschule. Über das weitere berufliche Leben<br />
der Kinder wurde ebenfalls nicht gesprochen. Neigungen<br />
und Fähigkeiten spielten keine Rolle, Wünsche wurden<br />
ignoriert. Bei einem Familientreffen in Saarlouis, wo Vater<br />
herkam, trafen wir auch Vaters Onkel Hans, der bei der<br />
Deutschen Presse Agentur in Hamburg arbeitete und dort<br />
wohnte. Wir haben miteinander geredet, ich habe ihm gesagt,<br />
dass ich gerne Reporter oder Journalist lernen möchte.<br />
Dieser Onkel Hans fand das wunderbar und hat meinen<br />
Eltern angeboten, mich unter seine Obhut zu nehmen, so<br />
dass ich eine gute Ausbildung haben würde. Es war ein<br />
wunderbares Angebot, aber es wurde leider nichts daraus.<br />
Meine Mutter ließ mich nicht gehen, konnte einfach nicht<br />
loslassen. Mit mir hatte das sicher nichts zu tun. Es gab eine<br />
furchtbare Auseinandersetzung mit meinen Eltern.<br />
Ich habe dann heimlich einen kleinen Koffer gepackt, alles<br />
über Tage vorbereitet und bin dann mit dem Zug nach Berlin<br />
gefahren. Ich hatte dort eine Anlaufstelle, einen Verwandten,<br />
der seit langer Zeit in Berlin lebte. Dort kam ich unter. Peter<br />
Bürger besorgte mir eine Aushilfsstelle bei der Margarine<br />
Union im Lager. Ich wollte nicht mehr nach Hause, sondern<br />
von dort weiter nach Hamburg, brauchte aber Geld. Peter<br />
Bürger hat dann ohne mein Wissen meine Eltern benachrichtigt.<br />
Die Polizei hat mich dann abgeholt und unter Aufsicht<br />
in den Zug verfrachtet: Richtung Siegen. Ich war eben noch<br />
nicht volljährig, sondern erst 14 Jahre. Stattdessen habe ich<br />
von April 1959 bis 31.März 1962 eine stinklangweilige Ausbildung<br />
zum Speditionskaufmann absolviert mit Abschluss<br />
vor der Handelskammer in Siegen. Der Ausbildungsbetrieb<br />
war eine mittelständische Spedition in Siegen in der Nähe<br />
des Schlachthofes. Das war Vaters Vermittlungswerk.<br />
Zum Ende meiner Schulzeit hat Vater immer öfter exzessiv<br />
getrunken. Hat randaliert, das Geld der Familie vertrunken<br />
und immer wieder Mutter geschlagen. Ich muss ungefähr<br />
15 gewesen sein. Es war wieder eine so würdelose Situation,<br />
wo er total die Kontrolle verlor und auf Mutter losging.<br />
Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und bin dazwischengegangen.<br />
Er hat mich angeglotzt und mir einen<br />
Fausthieb verpasst. Reflexartig habe ich zurückgeschlagen.<br />
Geschockt stand er da, sein Gesicht eine Grimasse, er blutete.<br />
Er wandte sich ab, ging ins Schlafzimmer und stand kurz<br />
darauf mit seiner Armeepistole, einer Walther P 38, vor mir<br />
und fuchtelte mit der Waffe vor meinem Gesicht. Ich hatte<br />
Todesangst, meine Mutter schrie furchtbar, meine Geschwister<br />
waren vor Angst geflüchtet. Dann klingelte es an der<br />
Türe, der Nachbar hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet.<br />
Er hatte diesen entsetzlichen Lärm gehört. Er hat auf Vater<br />
eingeredet, die Waffe an sich genommen und ihn mit aus der<br />
Wohnung genommen. Ich war wie traumatisiert. Wir haben<br />
darüber niemals wieder gesprochen.<br />
Eberhard Wagner<br />
58 durchblick 4/<strong>2014</strong>