2014-04
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Gesellschaft<br />
höchste Alarmstufe, die Flucht anzutreten. Wir schafften es<br />
noch rechtzeitig aus der Wohnung im dritten Stock. Jacken<br />
und Schuhe in der Hand. Erst unterwegs im nahen Wald haben<br />
wir Schuhe und Jacken angezogen. Hier waren wir sicher<br />
in einem Trichterversteck. Es war kalt, aber wir hatten<br />
so große Angst, dass wir die Kälte nicht gespürt haben. Wir<br />
saßen eng aneinandergerückt in einem Bombentrichter, haben<br />
gehört, wie später nach uns gesucht wurde. Mit Fackeln und<br />
Lampen suchte man uns, man rief unsere Namen. Das Versprechen,<br />
dass uns nichts geschehen würde, wenn wir nach<br />
Hause kämen, hat uns aus der Kälte gerettet. An diesem Tag<br />
gab es keine Schläge, aber die Bedrohung blieb immer nah.<br />
Die furchtbare Angst ist mir als einziges aus dieser Zeit<br />
erinnerlich. Ich muss etwa vier gewesen sein.<br />
Um eine gewisse Ordnung anzustreben, werde ich meine<br />
Erinnerungen in Altersabschnitte aufschreiben.<br />
Die ersten 8 Lebensjahre<br />
Zur Sicherheit!<br />
Johanniter-<br />
Hausnotruf<br />
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Vom Lebensjahr 0 bis 4 habe ich keine eigenen Erinnerungen.<br />
Sie sind mir nur aus Erzählungen, vornehmlich<br />
meiner Mutter, berichtet worden.<br />
Ich war ein kleiner, schmächtiger Kerl mit viel Fantasie<br />
und Bewegungsfreude. Freunde gab es genug im Umfeld.<br />
Gespielt haben wir beinahe ausschließlich draußen. Ich hatte<br />
dabei immer die Aufgabe, auf meinen jüngeren Bruder Peter<br />
aufzupassen. Das war für mich sehr anstrengend, die Verantwortung<br />
zu groß. Wenn er verschwunden war, bekam ich<br />
Stress und musste ihn suchen, Es gab viele Situationen, bei<br />
denen ich geschlagen wurde, weil er sich verletzt hatte oder<br />
gar in die Alche gefallen war. In dieser Zeit habe ich meinen<br />
Bruder Peter nicht geliebt. Meine älteren Geschwister hatten<br />
ihre eigenen Probleme. Die Tatsache, dass die Familie mit<br />
sechs Personen nur zwei Schlafräume, eine kleine Kochküche<br />
und einen Raum hatte, der zum Essen und Wohnen<br />
diente, lässt erahnen, dass es keinen Rückzugsraum gab. Die<br />
Toilette befand sich im Treppenhaus und wurde von zwei<br />
Familien genutzt. Ein Bad hatten wir nicht. Die Vorstellung,<br />
dass in einem Raum von etwa 14 qm vier Kinder schliefen,<br />
die alle Kinderkrankheiten einschließlich Diphtherie,<br />
Pocken und Krätze überstanden haben, erklärt vielleicht die<br />
Not, aber auch das Glück, dass wir alle überlebt haben.<br />
Im Kindergarten waren wir alle nicht, weil es zu wenige<br />
gab und die Plätze schnell vergeben waren. Wir hatten auch<br />
gar nicht die Kleidung zum Wechseln. Leibwäsche mussten<br />
wir eine ganze Woche tragen, Baden konnten wir samstags<br />
in einer Zinkwanne. Das Wasser wurde auf dem Herd erwärmt<br />
und immer nachgegossen, damit alle Kinder baden<br />
konnten. Der ganze Körper, einschließlich der Haare, wurde<br />
mit Kernseife gesäubert. Der einzige Raum, der im Winter<br />
geheizt werden konnte, war die Küche. Die anderen Zimmer<br />
hatten keine Heizung. Die Bettwäsche war demzufolge sehr<br />
kalt und feucht. Die Betten waren Eisengestelle mit Drahtgeflecht<br />
und Rosshaarmatratzen. Die Betten waren eng aneinander<br />
gestellt, sonst hätten nicht alle ins Zimmer gepasst.<br />
Wir trugen Hosen und Jacken aus Armeetuch, welche<br />
meine Mutter genäht hatte. Meine Schwester bekam aus<br />
gleichem Stoff Kleider und Mäntel genäht. Ansonsten<br />
trugen wir gestrickte Pullover, die jeder vom anderen Geschwisterkind<br />
tragen musste. Schuhe gab es nur, wenn das<br />
aktuelle Paar nicht mehr zu reparieren war. Haare bekamen<br />
56 durchblick 4/<strong>2014</strong>