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2014-04

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Essay<br />

Kommen wir zum Prüfstein „Gesellschaft“ und fragen<br />

uns, welche Bedeutung hat für einen Suizidanten die soziale<br />

Gemeinschaft in der er lebt für seine Entscheidung, sich als<br />

Mitglied aus der Gemeinschaft durch Selbsttötung zu verabschieden?<br />

Sieht er nicht die Mitverantwortung, die er für<br />

die Solidaritätsgemeinschaft trägt und ist ihm bewusst, welche<br />

Schäden er unmittelbar durch seine Tat insbesondere bei seinenAngehörigen<br />

anrichtet?Andererseits muss sich die Gesellschaft<br />

bei jedem Suizid selbst fragen, welches Fehlverhalten,<br />

welche Unachtsamkeit und Versäumnisse ihrerseits gegenüber<br />

dem Suizidanten vorliegen. Für den französischen Philosophen<br />

Denis Diderot (1713–1784) ist es uns ohne Zustimmung<br />

der Gesellschaft nicht erlaubt, uns durch Selbstmord aus<br />

dieser Gesellschaft zu verabschieden. Warum? Weil wir als<br />

Mitglied der Gesellschaft sowohl freiwillige als auch determinierte<br />

Verhältnisse eingegangen sind, die wir nicht einseitig<br />

lösen und aufkündigen dürfen. Man muss solange wie möglich<br />

existieren. Der Suizidant tritt die eingegangenen Beziehungen<br />

mit Füssen und gibt durch sein freiwilliges Aus-dem-Lebenscheiden<br />

unmissverständlich zu verstehen: „Ich will nicht<br />

mehr dein Vater, dein Bruder, dein Gatte, dein Freund, dein<br />

Sohn, dein Mitbürger, dein Mitmensch sein. 1 ) Für Diderot ist<br />

der Selbstmord eine einseitigeAufkündigung von Vertragsverhältnissen<br />

und folglich ein Verbrechen gegen die Gesellschaft.<br />

Auch hier, wie bei der Natur bleibt die Frage: In welch einer<br />

für ihn ausweglosen Situation muss sich ein Mensch befinden,<br />

wie krank muss er an Leib und Seele sein, dass er all diese<br />

Bedenken über Bord wirft?<br />

Einer, der diese drei Beurteilungsinstanzen Gott, Natur<br />

und Gesellschaft und die mit ihnen zusammenhängenden<br />

Argumentationen verwirft, ist der englische Philosoph David<br />

Hume (1711-1776). Für ihn ist die Selbsttötung kein Eingriff<br />

in die Vorsehung Gottes, da wir Menschen, um überleben zu<br />

können, ja unentwegt in die von<br />

ihm geschaffene Natur eingreifen,<br />

sie verändern und dabei sogar andere,<br />

von ihm geschaffene Lebewesen<br />

töten. Warum sollte dann<br />

das selbst bestimmte Ende eines<br />

Menschen, für den sein Leben durch Alter, Krankheit oder<br />

Unglück zu einer unerträglichen Last geworden ist, den großen<br />

Plan Gottes in irgend einer Form tangieren? Außerdem<br />

ist David Hume der Ansicht, dass der, der freiwillig aus dem<br />

Leben scheidet, der Gesellschaft durchaus keinen Schaden<br />

zufügt. Er hört – im besten Fall – lediglich auf, ihr Gutes<br />

zu tun, ja er kann durch seine Tat sogar anderen Menschen<br />

Last von ihren Schultern nehmen. Damit macht Hume den<br />

Blick frei für die humanen Aspekte, die bei den Verächtern<br />

des Selbstmordes zu kurz kommen. 1)<br />

Humane Aspekte<br />

Verlassen wir die vielfältig philosophischen pro und kontra<br />

Sichtweisen eines Suizids und wenden uns seinen Ursachen<br />

zu. Was sind die Beweggründe eines Menschen für<br />

Kann der segensreiche medizinische<br />

Fortschritt nicht<br />

auch zum Fluch werden?<br />

seinen Wunsch, sein Leben freiwillig und vorzeitig zu beenden?<br />

Ein im Grunde genommen doch völlig widernatürliches<br />

Verlangen, denn jeder Mensch will von Natur aus leben, und<br />

dass solange wie eben möglich. Was tun wir nicht alles für<br />

ein langes und gesundes Leben. Wir achten auf eine gesunde<br />

Ernährung und halten uns fit, geistig und körperlich. Wo also<br />

liegen die Ursachen für die Umwandlung des Wunsches,<br />

lieber tot als lebendig zu sein? Immerhin, glaubt man den<br />

tatistiken, starben im Jahr 2011 in Deutschland 10.144<br />

Menschen durch Suizid, 2) das sind mehr als Verkehrstote,<br />

Aids-Tote, Drogentote und Opfer von Gewaltverbrechen<br />

zusammengezählt. 4) Die allermeisten Suizide<br />

(ca. 90 %) begehen Menschen, die an einer Depression<br />

leiden und bei denen eine – im klassischen Suizidsinn –<br />

wohl bedachte, d. h. psychologisch-freiheitlich getroffene<br />

Entscheidung ausgeschlossen werden kann, denn durch die<br />

Depression ist ihr Lebensbild verzerrt und eingeschränkt. In<br />

diesen Fällen kann sich der Schwerpunkt einer ärztlichen<br />

Behandlung sicherlich nur auf die Suizid-Prävention konzentrieren,<br />

liegen doch die Zahlen der misslungenen Suizidversuche<br />

um das 10-fache höher, als die der „geglückten“.<br />

Aber neben der Depression gibt es einen weiteren, aufgrund<br />

des demografischen Wandels in unserer Gesellschaft, wachsenden<br />

Grund, Suizid zu begehen. Es ist der Wunsch, einem<br />

krankheitsbedingten, langen, qualvollen, menschenunwürdigen<br />

und fremdbestimmten Leidensweg zu entgehen bzw.<br />

ihn frühzeitig zu beenden. Dank des medizinischen Fortschritts,<br />

sowohl in der Pharma- als auch in der Gerätemedizin,<br />

werden wir immer älter. Ein Segen für uns Menschen.<br />

Kann aber, so ist zu bedenken, dieser segensreiche Fortschritt<br />

nicht auch zum Fluch werden? Und das immer dann, wenn es<br />

Krankheitsbilder gibt, bei denen die Frage erlaubt sein muss:<br />

Was wird hier eigentlich verlängert, ein noch lebenswertes<br />

Leben, oder ein qualvoll langes<br />

Sterben? Und genau in diese<br />

schwierige Entscheidung fällt der<br />

zunehmende Wunsch von Patienten,<br />

ihr Leben – besser gesagt<br />

ihr Leiden – durch Suizid beenden<br />

zu wollen. Nur, und darin liegt der Unterschied zum klassischen<br />

Suizid, brauchen sie in diesen Fällen fremde Hilfe.<br />

Der (ärztlich) assistierte Suizid<br />

Einen zusätzlichen, gesellschaftspolitisch wichtigen Aspekt<br />

bei der Frage nach der moralisch-ethischen Zulässigkeit<br />

eines Suizid, erfährt der öffentlich geführte Diskurs durch<br />

die Beurteilung des assistierten Suizids, Fälle, wo Menschen,<br />

die den Wunsch haben zu sterben, den Suizid aber<br />

nicht mehr selbst an sich vollstrecken können. Menschen<br />

also, die für ihren Suizid die Hilfe eines Dritten in Anspruch<br />

nehmen müssen, weil sie alleine dazu nicht mehr in der Lage<br />

sind. Es sind, im Gegensatz zum klassischen Suizid, der alle<br />

Altersgruppen betrifft, meist körperlich Schwerstkranke und<br />

an einer unheilbaren Krankheit leidende, überwiegend ältere<br />

68 durchblick 4/<strong>2014</strong>

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