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2014-04

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letzt oder missbraucht wird. Eine emotionale Verrohung,<br />

die mir mein ganzes Leben unerklärlich geblieben ist. Aber<br />

von den eigenen Eltern erwartet man das ganz sicher nicht.<br />

Um so schmerzlicher war dann die Erkenntnis, dass niemand<br />

mehr da ist, der dich schützt.<br />

Wir haben von unseren Eltern keine Antworten auf unsere<br />

Fragen bekommen, warum sie ihre Kinder misshandeln,<br />

verprügeln, einsperren, hungern lassen. Es geschah<br />

einfach ohne Ankündigung, für uns furchtbare Normalität.<br />

Wir waren gefangen in einer Abhängigkeit, nur weil wir<br />

Kinder waren. Wir waren Sklaven ohne eigene Rechte, gefangen<br />

in einem System von Gewalt und Unterdrückung.<br />

Unsere Seelen haben geschrieen, aber niemand hat uns gehört.<br />

Irgendwann sind wir verstummt.<br />

Nach heute gültigen Maßstäben und gesetzlichen Regeln<br />

wären wir alle – bis auf meinen Bruder Michael, der die Gnade<br />

der späten Geburt hatte – aus dieser Familie genommen<br />

und unter staatliche Aufsicht gestellt worden. Wir wären alle<br />

in ein Kinderheim gekommen mit ungewissem Ausgang.<br />

Nach aller Wahrscheinlichkeit und unter Zugrundelegung des<br />

heutigen Wissens über auch christlich geführte Kinderheime,<br />

kann man davon ausgehen, dass es uns dort auch nicht besser<br />

ergangen wäre – auch hier wären wir rechtlos geblieben.<br />

Einen kleinen Vorgeschmack, wie es in solchen Heimen<br />

zuging, haben wir bekommen, als wir im Rahmen eines Familienverschickungsprogramms<br />

Anfang der 1950er Jahre<br />

als Kinder gemeinsam vier Wochen in ein Erholungsheim<br />

nach Oberkassel verschickt wurden. Wir erlebten auch hier<br />

nur Drill, Arbeit, Verbote, Züchtigung. Hier haben wir zum<br />

ersten Mal Kontakt zu den falschen Heiligen bekommen. Ich<br />

war sieben oder acht Jahre alt. Es waren Sommerferien. Ich<br />

bekam nach drei Wochen zum zweiten Mal in meinem Leben<br />

eine schlimme Lungenentzündung und wurde sofort isoliert.<br />

Durfte von heute auf morgen meine Geschwister nicht mehr<br />

sehen, keinen Besuch, keinen Telefonkontakt. Die folgenden<br />

vier Wochen waren für mich seelisch und körperlich ein<br />

Ausnahmezustand. Absolute Isolation, keinen Kontakt zu<br />

niemandem. Habe Essen und Trinken verweigert und wurde<br />

zwangsweise ernährt. Nach sieben Wochen wurde ich von<br />

Vater abgeholt. Die armseligen Zeilen, die ich in meiner Not<br />

nach Hause schrieb, wurden mir später bei passenden Gelegenheiten<br />

vorgelesen. Man fand das lustig.<br />

Es reicht mir nicht zu sagen, die Zeiten waren damals<br />

so, um damit eine Rechtfertigung zu finden. Unsere Eltern<br />

haben sich an ihren Schutzbefohlenen versündigt. Meine<br />

Versuche, später als schon älterer Mensch mit meinen Eltern<br />

darüber zu sprechen, um die Kindheit ein Stück weit<br />

aufzuarbeiten, sind sämtlich gescheitert. Mutter hat sich oft<br />

nicht erinnern wollen, hat alles verklärt gesehen, hat sich ihre<br />

eigene Welt geschaffen. Mutter hat ihr Leben insgesamt<br />

dem Leben meines Vaters untergeordnet, war wirtschaftlich<br />

und emotional abhängig. Trotzdem habe ich großen Respekt<br />

vor der Lebensleistung meiner Mutter.<br />

Vater hat meine Versuche, mit ihm über unsere (meine)<br />

Kindheit zu sprechen, harsch zurückgewiesen. An Prügel<br />

und Misshandlung hatte er keine Erinnerung. Wie hätte er<br />

auch mit dieser Schuld 96 Jahre alt werden können? Vater<br />

war ein zynischer, überheblicher, geltungsbedürftiger<br />

Autorenfoto<br />

Mensch, der es nicht ertragen konnte, wenn er nicht im Vordergrund<br />

stand. Er wurde in Sekundenschnelle jähzornig,<br />

löste alle Probleme, in dem er handgreiflich wurde. Wir als<br />

Kinder waren ihm natürlich körperlich nicht gewachsen. Er<br />

geriet völlig außer sich, sein Gesicht war dann wutverzerrt<br />

und er schlug willkürlich auf uns ein. Mit der Faust, mit der<br />

Peitsche, mit dem Gürtel. Wir hatten große Angst vor ihm,<br />

aber keinen Respekt. Seinen gesamten Frust, den er über<br />

die Woche in seiner Arbeit bei der Bundesbahn angehäuft<br />

hat, hat er an uns Kindern ausgelassen. Er konnte mit seinen<br />

Kollegen auch nicht umgehen. Diese Vermutung wurde bestärkt,<br />

als ich nach seinem Tod in seinen Unterlagen Briefe<br />

fand, die belegen, dass er sich über lange Zeit seiner Berufstätigkeit<br />

mit vorgesetzten Kollegen böse Briefe geschrieben<br />

hat. Da er Beamter war, blieben die Konsequenzen aus.<br />

Der Stachel aber saß bei ihm tief. Man hat ihm empfohlen,<br />

mit Mitte 50 in den Vorruhestand zu gehen. Er hat akzeptiert<br />

und hat später als Pförtner in Teilzeit gearbeitet. Vater hat<br />

niemals einen wirklichen Freund gehabt.<br />

Liebe und Empathie haben wir nicht kennen gelernt,<br />

körperliche Nähe hat uns erschreckt. Schlimm und zerstörend<br />

war, dass wir uns immer schuldig gefühlt haben.<br />

Schuldig, dass wir etwas falsch gemacht hätten. Schuldig,<br />

dass durch unser bloßes Vorhandensein in diesem Leben<br />

der Zustand ausgelöst und begründet war. Wir waren in<br />

einer permanenten Anspannung, hatten Fluchtgedanken<br />

entwickelt, wie es Tiere tun, wenn sie Gefahr spüren. Gedanklich<br />

hatte jeder von uns sein persönliches Fluchtpaket<br />

gepackt. Aber manchmal half auch das nicht mehr.<br />

Ich beschreibe hier eine Begebenheit, von meiner<br />

Schwester Heidi erzählt, die besonders eindrucksvoll wiedergibt,<br />

unter welchem Druck wir als Kinder standen.<br />

Wir wohnten nach dem Krieg am Reckhammer in Siegen.<br />

Heidi und Norbert gingen in die ersten Schulklassen. Der<br />

Wintertag war sonnig und wir waren nach dem Essen draußen.<br />

Heidi und Norbert haben daher später Hausaufgaben<br />

gemacht. Der einzige Platz, der dafür zur Verfügung stand,<br />

war der Küchentisch. Als Vater von der Arbeit kam, bekam<br />

er einen Wutanfall, weil der Tisch zu einer Zeit belegt war,<br />

die ihm nicht recht war. Er rastete total aus. Ohne Ankündigung<br />

warf er den Tisch um und schrie uns an. Für uns &<br />

Obenstruthschule heute<br />

4/<strong>2014</strong> durchblick 55

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