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2014-04

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Gesellschaft<br />

Wir Verlorenen kinder<br />

Ein ganz alltäglicher Lebenslauf<br />

Vier Geschwister<br />

Es fällt unendlich schwer, zu beschreiben, wie meine<br />

Kindheit und die meiner Geschwister verlaufen ist.<br />

Dabei ist dieser Lebenslauf gar nicht so ungewöhnlich!<br />

Geboren sind wir zwischen 1940 und 1946 imAbstand von<br />

2 Jahren. 1958 kam noch ein Nachzügler, mein Bruder Michael.<br />

Heidemarie 1940, Norbert 1941, Eberhard 1944, Peter<br />

1946. Mutter Elisabeth, Vater Philipp Jakob. Beide Eltern sind<br />

gestorben. Mutter wurde 78, Vater 96 Jahre.<br />

Mein Bruder Norbert starb 1964 mit 23 Jahren durch<br />

einen unvorsichtigen Autofahrer auf dem Weg zur Arbeit<br />

in der Frühe. Er wurde in Fellinghausen begraben. Er hatte<br />

kurz zuvor seine Frau Anne kennen und lieben gelernt.<br />

Meine Mutter hat meine Geburt später in der ihr eigenen<br />

Art prosaisch beschrieben. Geboren am 5.6.1944 an einem<br />

Montagabend um 22 Uhr in Erndtebrück im Haus der Stiefeltern<br />

Roth. Mutter schreibt weiter: Haare schwarz, Augen<br />

grau-grün, Länge 53 cm Gewicht: 3100 g im Sternzeichen<br />

Zwilling. Mutter erzählt dann weiter: In der Nacht, als<br />

Eberhard geboren wurde, sind die Amerikaner gemeinsam<br />

mit den Alliierten in Dünkirchen gelandet.<br />

Autorenfoto<br />

Weil in dem Haus der Stiefeltern meiner Mutter in Erndtebrück<br />

auf Dauer für uns als Familie kein Platz war, bekamen<br />

wir die Wohnung in Siegen am Reckhammer zugewiesen.<br />

Philipp musste nach einigen Wochen Urlaub wieder<br />

nach Russland. Er kam nach neun Wochen erst wieder zurück<br />

auf Genesungsurlaub, weil er die Ruhr gehabt hatte.<br />

Dann schildert Mutter die Bombenangriffe auf Siegen und<br />

dem damit zwangsläufigen Aufenthalt in mehreren Fluchtstollen.<br />

Sie schildert auch Krankheiten wie Diphtherie und<br />

Tod vieler Kinder. Wir Wagner-Kinder bekamen alle eine<br />

Spritze in den Po, so Mutter.<br />

Wegen der andauernden Bombenangriffe auf Siegen<br />

und Umgebung mussten wir vom Kuckucksstollen in den<br />

Wellersbergstollen wechseln, weil es dort angeblich sicherer<br />

war. Mutter berichtet auch über die schlimmen hygienischen<br />

Zustände in den Stollen. Letztendlich hat eine<br />

Ärztin aus dem Kinderkrankenhaus dringend empfohlen,<br />

nicht mehr in den Stollen zu gehen. Es bestand Lebensgefahr<br />

für mich und meine Geschwister. Mutter beschreibt es<br />

so, dass es der Auslöser dafür war, dass die Familie sich auf<br />

den Weg machte, um Verwandte in Coburg aufzusuchen,<br />

weil es dort für die Familie sicher sein würde. Das Unternehmen<br />

begann im Februar 1945. Mit zwei Kinderwagen<br />

über Landstraßen, nachts in Bauernscheunen, mit Fuhrwerken,<br />

teilweise auch kurze Zugfahrten, so waren wir unterwegs.<br />

Ich hatte das Privileg, im Kinderwagen gefahren zu<br />

werden, weil ich mit acht Monaten noch nicht gut zu Fuß<br />

war. Unter großen Strapazen kamen wir Wochen später in<br />

Coburg an. In Coburg waren schon die Amerikaner und<br />

hatten als Hauptquartier die „Feste Coburg“ ausgewählt.<br />

Wir als Flüchtlinge wohnten in der Domäne und bekamen<br />

endlich täglich etwas zu essen.<br />

Der Krieg war beendet, Deutschland hatte den Krieg<br />

„Gott sei Dank“ verloren. Wenn es ihn denn gibt, diesen<br />

Gott, so hätte er diesen Krieg verhindern müssen.<br />

1946 begannen die Nürnberger Prozesse Gestalt anzunehmen.<br />

Das unendliche Grauen, die Verbrechen kamen nach<br />

und nach ans Licht. Wir waren noch zu klein, um das alles<br />

zu verstehen. Nicht nur unser Land lag in Trümmern, überall<br />

in Europa war es so. Deutschland hatte den Krieg begonnen,<br />

unsägliches Leid überfast alle Völker Europas gebracht und<br />

wurde nun zur Rechenschaft gezogen. Niemand in meiner<br />

Familie oder Verwandtschaft wusste angeblich von all den<br />

Verbrechen. Die totale Amnesie war ausgebrochen. Die<br />

Kriegsverbrecher, Wirtschaftsbosse, Kriegsgewinnler waren<br />

immer noch da und haben aus dem Leid der Menschen ihren<br />

Gewinn gezogen. Auch die politischen Wendehälse sind die<br />

gleichen geblieben. Sie sitzen wieder auf ihren Posten.<br />

Man kann sich als Kind nicht aussuchen, von wem man<br />

in seiner Kindheit belogen, gedemütigt, unterdrückt, ver-<br />

54 durchblick 4/<strong>2014</strong>

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