Bericht zur sozialen Lage 2011 - bei der Arbeitnehmerkammer ...
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Willkommen im normalen Leben!<br />
LORENZEN: Was wiegt denn mehr, die finanzielle<br />
Einbuße o<strong>der</strong> <strong>der</strong> menschliche Verlust?<br />
PETRA K.: Es ist <strong>bei</strong>des. Ich würde hier auch<br />
ohne Geld weiterhin ar<strong>bei</strong>ten, wegen <strong>der</strong><br />
Menschen. Aber das Geld brauche ich für<br />
meine Kin<strong>der</strong>.<br />
LORENZEN: Zwei Kin<strong>der</strong> haben Sie, wenn ich<br />
mich richtig erinnere. Ihr Sohn war gerade<br />
ausgezogen.<br />
PETRA K.: Richtig. Er hat jetzt seine Ausbildung<br />
fertig gemacht und hat einen Vertrag <strong>bei</strong> einer<br />
an<strong>der</strong>en Firma bekommen. Aber die sind jetzt<br />
mit seinen Leistungen nicht zufrieden, weil er<br />
sich an <strong>der</strong> Säge verletzt hat. Und jetzt überlegen<br />
sie, ob sie ihn nicht rausschmeißen.<br />
Meine Tochter ist in die dritte Klasse gekommen,<br />
sie kommt in <strong>der</strong> Schule gut <strong>zur</strong>echt.<br />
Bloß, es ist alles zu teuer geworden. Früher<br />
musste ich für den Hort sechs Euro bezahlen,<br />
jetzt 32 Euro. Das kann ich auch nicht mehr<br />
tragen. Und wenn ab nächsten Monat noch<br />
weniger da ist, weiß ich nicht, wie ich das<br />
noch machen soll. Dann kann ich den Hort<br />
nicht mehr finanzieren. Ich habe mir schon<br />
Hilfen geholt, aber es ist kaum noch tragbar.<br />
LORENZEN: Wie viel fällt denn weg, wenn <strong>der</strong><br />
Ein-Euro-Job weg ist?<br />
PETRA K.: Über 100 Euro.<br />
LORENZEN: Woran müssen Sie denn sparen?<br />
PETRA K.: Essen tue ich selten. Ich weiß nicht,<br />
worauf ich noch verzichten soll. Ich kann mir<br />
nicht mal Schuhe leisten, ich laufe <strong>bei</strong> diesem<br />
Wetter mit Badelatschen rum. Ich weiß wirklich<br />
nicht, wie es weitergehen soll. Ich frage<br />
mich einfach, wie soll ich diesen Winter<br />
durchkommen. Meine Tochter braucht wie<strong>der</strong><br />
Klamotten, ich kaufe mir schon gar keine<br />
mehr. Dieser Job hat mir noch ein bisschen<br />
Extra gegeben. Da hatte ich das Gefühl, ich<br />
kann mir ein bisschen erlauben und wenn es<br />
nur ein paar Socken sind.<br />
LORENZEN: Haben Sie ein Umfeld, das Sie<br />
noch etwas stützt?<br />
PETRA K.: Eigentlich nicht. Ich kämpfe ewig<br />
alleine, das habe ich Ihnen doch schon <strong>bei</strong>m<br />
letzten Interview gesagt. Ich habe nur mich,<br />
meine kleine Familie, <strong>der</strong> Rest ist nur angedockt.<br />
Solange ich hier bin, habe ich noch das<br />
Gefühl, dass man sich hilft. Aber wenn man<br />
hier raus ist, ist man raus. Wer kommt denn<br />
freiwillig noch mal her? Dann ist man nicht<br />
mehr drinnen, dann ist man draußen. Dann<br />
gehört man nicht mehr in den Kreis, son<strong>der</strong>n<br />
steht davor. Das ist kein schönes Gefühl.<br />
LORENZEN: Jetzt gucken Sie erst mal, ob es<br />
an<strong>der</strong>e Projekte gibt?<br />
PETRA K.: Klar, gucken, gucken, gucken. Und<br />
den Boden nicht verlieren. Nicht wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />
Gosse landen. Das will ich nicht, dafür kämpfe<br />
ich. Du weißt, du wirst fallen, aber du willst<br />
nicht. Aber <strong>der</strong> Boden bröckelt jeden Tag<br />
mehr. Die Angst kommt näher. Und mit <strong>der</strong><br />
Angst die alten Fehler.<br />
LORENZEN: Welche Fehler?<br />
PETRA K.: Dass man sich doch mal wie<strong>der</strong> was<br />
gönnt, mal ein Bierchen, nur für eine Minute<br />
mal für sich sein. Und davor habe ich Angst.<br />
Deswegen versuche ich zu kämpfen und zu<br />
kratzen. Ich will nicht in Bremen-Ost landen.<br />
Ich kämpfe um meine Existenz, um mein<br />
ganzes Leben. Und nicht nur um meine Kin<strong>der</strong>.<br />
Die kommen natürlich auch noch dazu.<br />
In <strong>der</strong> Nähe des Cafés, in dem Petra K. zum<br />
Zeitpunkt des Interviews jeden Morgen den<br />
Kaffee an Leute ausschenkt, die noch ärmer<br />
sind als sie selbst, liegt <strong>der</strong> Frauengesundheitstreff<br />
Tenever. Hier können sich bedürftige<br />
Frauen mit gesundheitlichen Problemen niedrigschwellig<br />
beraten lassen. Außerdem bietet<br />
die Einrichtung, die vor kurzem 20 Jahre alt<br />
wurde, kostengünstige Freizeitangebote an.<br />
Dazu kommen Alphabetisierungs- und weiterführende<br />
Deutschkurse.<br />
Die Leiterin Jutta Flerlage hat am Telefon<br />
erzählt, dass die meisten Besucherinnen<br />
Migrantinnen sind. Sie wüsste nicht, ob sie<br />
darunter Frauen finden würde, die bereit<br />
seien, über ihre Lebenssituation zu sprechen.<br />
Und dann noch mit einem Mann. Mit <strong>der</strong> Zusage,<br />
selbst <strong>bei</strong> den Gesprächen da<strong>bei</strong> zu sein,<br />
kann sie schließlich drei Frauen überreden.<br />
Zuerst kommt die 40-jährige Canan F., die<br />
in <strong>der</strong> Türkei aufgewachsen ist und seit 25<br />
Jahren in Deutschland lebt. Zehn Kin<strong>der</strong> hat<br />
sie auf die Welt gebracht, die jetzt zwischen 6<br />
und 21 Jahre alt sind und alle noch zu Hause<br />
leben. In einer Vierzimmerwohnung. Canan F.<br />
hatte we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Türkei noch in Deutschland<br />
Schulunterricht. Jetzt geht sie zweimal in<br />
<strong>der</strong> Woche zum Deutschkurs und kann sich<br />
fremden Interviewern verständlich machen.