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Bericht zur sozialen Lage 2011 - bei der Arbeitnehmerkammer ...

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66<br />

Willkommen im normalen Leben!<br />

LORENZEN: Was wiegt denn mehr, die finanzielle<br />

Einbuße o<strong>der</strong> <strong>der</strong> menschliche Verlust?<br />

PETRA K.: Es ist <strong>bei</strong>des. Ich würde hier auch<br />

ohne Geld weiterhin ar<strong>bei</strong>ten, wegen <strong>der</strong><br />

Menschen. Aber das Geld brauche ich für<br />

meine Kin<strong>der</strong>.<br />

LORENZEN: Zwei Kin<strong>der</strong> haben Sie, wenn ich<br />

mich richtig erinnere. Ihr Sohn war gerade<br />

ausgezogen.<br />

PETRA K.: Richtig. Er hat jetzt seine Ausbildung<br />

fertig gemacht und hat einen Vertrag <strong>bei</strong> einer<br />

an<strong>der</strong>en Firma bekommen. Aber die sind jetzt<br />

mit seinen Leistungen nicht zufrieden, weil er<br />

sich an <strong>der</strong> Säge verletzt hat. Und jetzt überlegen<br />

sie, ob sie ihn nicht rausschmeißen.<br />

Meine Tochter ist in die dritte Klasse gekommen,<br />

sie kommt in <strong>der</strong> Schule gut <strong>zur</strong>echt.<br />

Bloß, es ist alles zu teuer geworden. Früher<br />

musste ich für den Hort sechs Euro bezahlen,<br />

jetzt 32 Euro. Das kann ich auch nicht mehr<br />

tragen. Und wenn ab nächsten Monat noch<br />

weniger da ist, weiß ich nicht, wie ich das<br />

noch machen soll. Dann kann ich den Hort<br />

nicht mehr finanzieren. Ich habe mir schon<br />

Hilfen geholt, aber es ist kaum noch tragbar.<br />

LORENZEN: Wie viel fällt denn weg, wenn <strong>der</strong><br />

Ein-Euro-Job weg ist?<br />

PETRA K.: Über 100 Euro.<br />

LORENZEN: Woran müssen Sie denn sparen?<br />

PETRA K.: Essen tue ich selten. Ich weiß nicht,<br />

worauf ich noch verzichten soll. Ich kann mir<br />

nicht mal Schuhe leisten, ich laufe <strong>bei</strong> diesem<br />

Wetter mit Badelatschen rum. Ich weiß wirklich<br />

nicht, wie es weitergehen soll. Ich frage<br />

mich einfach, wie soll ich diesen Winter<br />

durchkommen. Meine Tochter braucht wie<strong>der</strong><br />

Klamotten, ich kaufe mir schon gar keine<br />

mehr. Dieser Job hat mir noch ein bisschen<br />

Extra gegeben. Da hatte ich das Gefühl, ich<br />

kann mir ein bisschen erlauben und wenn es<br />

nur ein paar Socken sind.<br />

LORENZEN: Haben Sie ein Umfeld, das Sie<br />

noch etwas stützt?<br />

PETRA K.: Eigentlich nicht. Ich kämpfe ewig<br />

alleine, das habe ich Ihnen doch schon <strong>bei</strong>m<br />

letzten Interview gesagt. Ich habe nur mich,<br />

meine kleine Familie, <strong>der</strong> Rest ist nur angedockt.<br />

Solange ich hier bin, habe ich noch das<br />

Gefühl, dass man sich hilft. Aber wenn man<br />

hier raus ist, ist man raus. Wer kommt denn<br />

freiwillig noch mal her? Dann ist man nicht<br />

mehr drinnen, dann ist man draußen. Dann<br />

gehört man nicht mehr in den Kreis, son<strong>der</strong>n<br />

steht davor. Das ist kein schönes Gefühl.<br />

LORENZEN: Jetzt gucken Sie erst mal, ob es<br />

an<strong>der</strong>e Projekte gibt?<br />

PETRA K.: Klar, gucken, gucken, gucken. Und<br />

den Boden nicht verlieren. Nicht wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Gosse landen. Das will ich nicht, dafür kämpfe<br />

ich. Du weißt, du wirst fallen, aber du willst<br />

nicht. Aber <strong>der</strong> Boden bröckelt jeden Tag<br />

mehr. Die Angst kommt näher. Und mit <strong>der</strong><br />

Angst die alten Fehler.<br />

LORENZEN: Welche Fehler?<br />

PETRA K.: Dass man sich doch mal wie<strong>der</strong> was<br />

gönnt, mal ein Bierchen, nur für eine Minute<br />

mal für sich sein. Und davor habe ich Angst.<br />

Deswegen versuche ich zu kämpfen und zu<br />

kratzen. Ich will nicht in Bremen-Ost landen.<br />

Ich kämpfe um meine Existenz, um mein<br />

ganzes Leben. Und nicht nur um meine Kin<strong>der</strong>.<br />

Die kommen natürlich auch noch dazu.<br />

In <strong>der</strong> Nähe des Cafés, in dem Petra K. zum<br />

Zeitpunkt des Interviews jeden Morgen den<br />

Kaffee an Leute ausschenkt, die noch ärmer<br />

sind als sie selbst, liegt <strong>der</strong> Frauengesundheitstreff<br />

Tenever. Hier können sich bedürftige<br />

Frauen mit gesundheitlichen Problemen niedrigschwellig<br />

beraten lassen. Außerdem bietet<br />

die Einrichtung, die vor kurzem 20 Jahre alt<br />

wurde, kostengünstige Freizeitangebote an.<br />

Dazu kommen Alphabetisierungs- und weiterführende<br />

Deutschkurse.<br />

Die Leiterin Jutta Flerlage hat am Telefon<br />

erzählt, dass die meisten Besucherinnen<br />

Migrantinnen sind. Sie wüsste nicht, ob sie<br />

darunter Frauen finden würde, die bereit<br />

seien, über ihre Lebenssituation zu sprechen.<br />

Und dann noch mit einem Mann. Mit <strong>der</strong> Zusage,<br />

selbst <strong>bei</strong> den Gesprächen da<strong>bei</strong> zu sein,<br />

kann sie schließlich drei Frauen überreden.<br />

Zuerst kommt die 40-jährige Canan F., die<br />

in <strong>der</strong> Türkei aufgewachsen ist und seit 25<br />

Jahren in Deutschland lebt. Zehn Kin<strong>der</strong> hat<br />

sie auf die Welt gebracht, die jetzt zwischen 6<br />

und 21 Jahre alt sind und alle noch zu Hause<br />

leben. In einer Vierzimmerwohnung. Canan F.<br />

hatte we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Türkei noch in Deutschland<br />

Schulunterricht. Jetzt geht sie zweimal in<br />

<strong>der</strong> Woche zum Deutschkurs und kann sich<br />

fremden Interviewern verständlich machen.

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