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Bericht zur sozialen Lage 2011 - bei der Arbeitnehmerkammer ...

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Ihr ganzer Körper sei kaputt, erzählt sie.<br />

Nieren, Rücken und Kopf tun weh. Für das<br />

Rückentraining soll sie 25 Euro bezahlen. Das<br />

bezahlt ihr die AOK genauso wenig wie die<br />

Kur, die sie beantragt hat. Für die Kur reichen<br />

ihre Deutschkenntnisse angeblich noch nicht<br />

aus.<br />

Ihr Mann ist ar<strong>bei</strong>tslos und <strong>der</strong> Älteste hat<br />

auch noch keine Ar<strong>bei</strong>t. Das Geld reicht hinten<br />

und vorne nicht. Die Kleidung ist nur vom billigsten,<br />

Computer und Fahrrad für die Kin<strong>der</strong> –<br />

Fehlanzeige. Die Frage danach, was sie sich<br />

denn selbst gern mal leisten würde, versteht<br />

sie nicht. Das liegt nicht am Sprach-, son<strong>der</strong>n<br />

am Rollenverständnis. Ar<strong>bei</strong>t für ihren Mann<br />

und die Söhne, das ist das, was sie sich<br />

wünscht. Die Töchter kämen klar.<br />

Jutta Flerlage kennt etliche ähnlich gelagerte<br />

Lebenssituationen.<br />

›Oft kommen Fragen, warum haben diese<br />

Frauen so viele Kin<strong>der</strong>? Das ist <strong>der</strong> einzige<br />

Reichtum, den sie erlangen können,<br />

und es hat da, wo sie herkommen, kulturell<br />

einen hohen Stellenwert. An<strong>der</strong>erseits<br />

bekommen sie aber auch keine Verhütungsmittel<br />

finanziert. Wenn sie mit<br />

Ar<strong>bei</strong>tslosengeld II auskommen müssen,<br />

wird oft an <strong>der</strong> Pille gespart. Die Männer<br />

sind noch wesentlich stärker in ihren alten<br />

Rollen und kulturellen Vorstellungen verhaftet.<br />

Und die Frauen übernehmen nicht<br />

nur Haushalt, Kin<strong>der</strong>, Gesundheitsvorsorge,<br />

son<strong>der</strong>n sie müssen sich dann auch<br />

noch verantwortlich fühlen, dass Geld<br />

reinkommt und dass sie sich beruflich<br />

orientieren. Sie lernen meist als Letzte<br />

Deutsch, weil sie sich vorher um alles<br />

an<strong>der</strong>e kümmern müssen. Einige fangen<br />

nach zehn o<strong>der</strong> fünfzehn Jahren damit an.<br />

Aber es muss auch etwas getan werden,<br />

dass die Männer Jobs finden können und<br />

so bezahlt werden, dass sie und ihre<br />

Familien davon leben können. Das ist das<br />

A und O.‹<br />

Die nächste Besucherin steckt ebenfalls in<br />

einer verzwickten Situation. Rania L. kam vor<br />

18 Jahren als Bürgerkriegsflüchtling aus dem<br />

Libanon mit ihrem Mann nach Deutschland.<br />

Sie hat drei Kin<strong>der</strong> hier geboren, ist aber<br />

immer noch lediglich geduldet. Das heißt:<br />

ständige Unsicherheit, 30 Prozent weniger als<br />

Hartz IV, Ar<strong>bei</strong>tsverbot. Ein Rechtsanwalt versucht<br />

gerade, für sie und ihren Mann einen<br />

Aufenthaltstitel zu erwirken.<br />

900 Euro bekommt die fünfköpfige Familie<br />

im Monat, davon gehen 150 Euro Strom und<br />

50 Euro Telefon ab. Bleiben 700 Euro zum<br />

Leben. Nicht mal einen Ein-Euro-Job darf die<br />

35-Jährige annehmen. Vor Kurzem hat sie<br />

ihren Schmuck verkauft, um den Führerschein<br />

zu machen. Nun hat das Amt ihr verboten, die<br />

Fahrschule weiter zu besuchen. Ohne Pass<br />

keinen Führerschein und selbst das Geld für<br />

die Anzahlung ist futsch. Das findet sie so<br />

absurd, dass sie fast darüber lachen muss.<br />

Im Moment besucht Rania L. den kostenfreien<br />

Deutsch-Kurs und hat in kurzer Zeit große<br />

Fortschritte gemacht.<br />

›Heute war ich schon im Internet-Café,<br />

habe eine E-Mail geschrieben. Bin so viele<br />

Jahre hier und frage mich: Warum habe<br />

ich es vorher nicht gelernt? Habe immer<br />

mit meinen Bekannten zusammengehockt<br />

und Kaffee getrunken. Ich war jung, das<br />

war falsch. Jetzt fragen mich meine<br />

Kin<strong>der</strong>: Was ist das und das? Und ich kann<br />

ihnen nicht helfen. Jede Woche zwei<br />

Wörter, das reicht für mich. Die Kin<strong>der</strong><br />

können aus dem Kin<strong>der</strong>garten Deutsch,<br />

langsam lerne ich von ihnen.‹<br />

Bald werden ihre Kin<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> die einzigen<br />

Lehrer von Rania L. sein, befürchtet Jutta<br />

Flerlage.<br />

›Den kostenlosen Kurs kann sie nur ein<br />

Jahr besuchen. Wenn sie im Duldungsstatus<br />

ist, kriegt sie keine BAM-För<strong>der</strong>ung<br />

für einen weiteren Sprachkurs. Integrationsför<strong>der</strong>ung<br />

gibt es nur mit einem<br />

Aufenthaltstitel.‹<br />

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