Bericht zur sozialen Lage 2011 - bei der Arbeitnehmerkammer ...
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Willkommen im normalen Leben!<br />
LORENZEN: Und was vermissen Sie am<br />
meisten?<br />
GERTRUD T.: Das ganz normale Leben halt. Mal<br />
ins Schwimmbad gehen, Kurse machen, ich<br />
wollte gerne Spanisch lernen, damit man<br />
geistig nicht ganz so runterkommt, geht nicht.<br />
Kleinigkeiten vermisst man, mal ins Kino<br />
gehen, <strong>bei</strong> 7 Euro Eintritt muss man sich das<br />
überlegen. Auch wenn wir hier etwas machen,<br />
frage ich vorher immer schon: Was kostet<br />
das, das ist für mich vorher ganz wichtig,<br />
nicht dass ich dastehe und die wollen plötzlich<br />
20 Euro haben. Man muss ja auch lernen zu<br />
betteln. Für mich ist das schon wie<strong>der</strong> Betteln.<br />
Verrückt, vor allem wenn man älter wird.<br />
Wer möchte das schon gern? Keiner.<br />
LORENZEN: Was für Gefühle haben Sie, wenn<br />
Sie darüber nachdenken?<br />
GERTRUD T.: Darüber darf man nicht nachdenken.<br />
Das habe ich mir durch zwei Kuren<br />
abgewöhnt.<br />
LORENZEN: Wie empfinden Sie die augenblickliche<br />
Diskussion über Hartz-IV-Empfänger?<br />
GERTRUD T.: Furchtbar. Dass man Leuten, die<br />
30 Jahre gear<strong>bei</strong>tet und was geschafft haben,<br />
alles anrechnet, finde ich nicht in Ordnung.<br />
Die kann man nicht auf eine Stufe stellen mit<br />
Leuten, die grad aus <strong>der</strong> Schule kommen o<strong>der</strong><br />
grad ihre Lehre beendet haben. Die können<br />
vielleicht auch nichts dafür, dass sie keine<br />
Ar<strong>bei</strong>t haben. Aber das geht nicht, 50-Jährige<br />
mit 20-Jährigen zu vergleichen, mit dem gleichen<br />
Geld, da kriege ich einen dicken Hals.<br />
Und wenn die dann jemanden mit 55 in einen<br />
Ein-Euro-Job schicken o<strong>der</strong> in Ar<strong>bei</strong>t von <strong>der</strong><br />
Leihfirma für 800 Euro, finde ich das deprimierend.<br />
Damit kann man doch keine Familie<br />
ernähren. Wer ar<strong>bei</strong>tet, soll so viel verdienen,<br />
dass er seine Familie ernährt. Ich kann Leute<br />
verstehen, die sagen: ›Was soll ich für 700<br />
Euro ar<strong>bei</strong>ten? Ich zahle 500 Euro Miete und<br />
habe zwei Kin<strong>der</strong>. Und muss jeden Monat <strong>bei</strong>m<br />
Amt meine Abrechnung vorlegen.‹ Verstehen<br />
kann ich die auch. Ich habe die Hoffnung aufgegeben,<br />
dass ich noch mal Ar<strong>bei</strong>t kriege.<br />
Obwohl ich schwer behin<strong>der</strong>t bin, wollen sie<br />
immer noch, dass ich mich bewerbe. Gut,<br />
mache ich das eben.<br />
Willkommen im Leben<br />
Der Skandal<br />
als Regelfall<br />
Hier endet dieser kleine Streifzug durch Orte<br />
in Bremen, an denen sich Frauen treffen, die<br />
in <strong>der</strong> jetzigen Phase ihres Lebens mit vielen<br />
Sorgen zu kämpfen haben, die – nicht nur,<br />
aber zum allergrößten Teil – ihrer <strong>sozialen</strong><br />
<strong>Lage</strong> entspringen. Die einen kennen diese Verhältnisse<br />
von früh auf, haben das nie an<strong>der</strong>s<br />
erlebt, die an<strong>der</strong>en hätten sich bis vor Kurzem<br />
nicht träumen lassen, einmal mit dem Thema<br />
›Armut‹ in Verbindung gebracht zu werden. Die<br />
einen geben sich selbst die Schuld an ihrer<br />
jetzigen Situation, die an<strong>der</strong>en begreifen sie<br />
auch als Ergebnis politischer Entscheidungen.<br />
Die einen träumen von einem erfüllten Leben<br />
in gesicherter Existenz, die an<strong>der</strong>en von ein<br />
paar Tagen Erholung an <strong>der</strong> Nordsee. Aber<br />
alle kämpfen jeden Tag darum, das Stück<br />
an Autonomie und Selbstentscheidung, über<br />
das sie noch verfügen, zu erhalten und zu<br />
erweitern. ›Ich strampele mich ab, um meinen<br />
Hintern im Machbaren zu halten‹, lautet ein<br />
Kernsatz aus den aufgezeichneten Interviews.<br />
So unterschiedlich die skizzierten Biografien<br />
und Lebensperspektiven sind, ein paar<br />
verallgemeinernde Gedanken lassen sich ihnen<br />
dennoch entnehmen.<br />
Mit <strong>der</strong> Agenda 2010 sind zahlreiche<br />
Frauen in die Armut gedrängt worden, die bis<br />
dahin noch Anschluss an den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
gehalten hatten und über verschiedene Formen<br />
gesellschaftlichen Engagements sozial<br />
integriert waren. Dies betrifft vor allem jüngere<br />
Frauen und alleinerziehende Frauen mit<br />
einer guten Ausbildung.<br />
Mit den bestehenden Hartz-IV-Bedarfssätzen<br />
kann niemand auskommen, <strong>der</strong> etwas an<strong>der</strong>es<br />
vom Leben möchte, als nicht zu verhungern.<br />
Da<strong>bei</strong> ist es beson<strong>der</strong>s erschreckend, wie<br />
bereits Kin<strong>der</strong> stigmatisiert werden und von<br />
<strong>der</strong> gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen<br />
werden. Daran wird die sogenannte Chipkarte<br />
in ihrer <strong>der</strong>zeit geplanten Form nichts<br />
än<strong>der</strong>n.