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Bericht zur sozialen Lage 2011 - bei der Arbeitnehmerkammer ...

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70<br />

Willkommen im normalen Leben!<br />

LORENZEN: Und was vermissen Sie am<br />

meisten?<br />

GERTRUD T.: Das ganz normale Leben halt. Mal<br />

ins Schwimmbad gehen, Kurse machen, ich<br />

wollte gerne Spanisch lernen, damit man<br />

geistig nicht ganz so runterkommt, geht nicht.<br />

Kleinigkeiten vermisst man, mal ins Kino<br />

gehen, <strong>bei</strong> 7 Euro Eintritt muss man sich das<br />

überlegen. Auch wenn wir hier etwas machen,<br />

frage ich vorher immer schon: Was kostet<br />

das, das ist für mich vorher ganz wichtig,<br />

nicht dass ich dastehe und die wollen plötzlich<br />

20 Euro haben. Man muss ja auch lernen zu<br />

betteln. Für mich ist das schon wie<strong>der</strong> Betteln.<br />

Verrückt, vor allem wenn man älter wird.<br />

Wer möchte das schon gern? Keiner.<br />

LORENZEN: Was für Gefühle haben Sie, wenn<br />

Sie darüber nachdenken?<br />

GERTRUD T.: Darüber darf man nicht nachdenken.<br />

Das habe ich mir durch zwei Kuren<br />

abgewöhnt.<br />

LORENZEN: Wie empfinden Sie die augenblickliche<br />

Diskussion über Hartz-IV-Empfänger?<br />

GERTRUD T.: Furchtbar. Dass man Leuten, die<br />

30 Jahre gear<strong>bei</strong>tet und was geschafft haben,<br />

alles anrechnet, finde ich nicht in Ordnung.<br />

Die kann man nicht auf eine Stufe stellen mit<br />

Leuten, die grad aus <strong>der</strong> Schule kommen o<strong>der</strong><br />

grad ihre Lehre beendet haben. Die können<br />

vielleicht auch nichts dafür, dass sie keine<br />

Ar<strong>bei</strong>t haben. Aber das geht nicht, 50-Jährige<br />

mit 20-Jährigen zu vergleichen, mit dem gleichen<br />

Geld, da kriege ich einen dicken Hals.<br />

Und wenn die dann jemanden mit 55 in einen<br />

Ein-Euro-Job schicken o<strong>der</strong> in Ar<strong>bei</strong>t von <strong>der</strong><br />

Leihfirma für 800 Euro, finde ich das deprimierend.<br />

Damit kann man doch keine Familie<br />

ernähren. Wer ar<strong>bei</strong>tet, soll so viel verdienen,<br />

dass er seine Familie ernährt. Ich kann Leute<br />

verstehen, die sagen: ›Was soll ich für 700<br />

Euro ar<strong>bei</strong>ten? Ich zahle 500 Euro Miete und<br />

habe zwei Kin<strong>der</strong>. Und muss jeden Monat <strong>bei</strong>m<br />

Amt meine Abrechnung vorlegen.‹ Verstehen<br />

kann ich die auch. Ich habe die Hoffnung aufgegeben,<br />

dass ich noch mal Ar<strong>bei</strong>t kriege.<br />

Obwohl ich schwer behin<strong>der</strong>t bin, wollen sie<br />

immer noch, dass ich mich bewerbe. Gut,<br />

mache ich das eben.<br />

Willkommen im Leben<br />

Der Skandal<br />

als Regelfall<br />

Hier endet dieser kleine Streifzug durch Orte<br />

in Bremen, an denen sich Frauen treffen, die<br />

in <strong>der</strong> jetzigen Phase ihres Lebens mit vielen<br />

Sorgen zu kämpfen haben, die – nicht nur,<br />

aber zum allergrößten Teil – ihrer <strong>sozialen</strong><br />

<strong>Lage</strong> entspringen. Die einen kennen diese Verhältnisse<br />

von früh auf, haben das nie an<strong>der</strong>s<br />

erlebt, die an<strong>der</strong>en hätten sich bis vor Kurzem<br />

nicht träumen lassen, einmal mit dem Thema<br />

›Armut‹ in Verbindung gebracht zu werden. Die<br />

einen geben sich selbst die Schuld an ihrer<br />

jetzigen Situation, die an<strong>der</strong>en begreifen sie<br />

auch als Ergebnis politischer Entscheidungen.<br />

Die einen träumen von einem erfüllten Leben<br />

in gesicherter Existenz, die an<strong>der</strong>en von ein<br />

paar Tagen Erholung an <strong>der</strong> Nordsee. Aber<br />

alle kämpfen jeden Tag darum, das Stück<br />

an Autonomie und Selbstentscheidung, über<br />

das sie noch verfügen, zu erhalten und zu<br />

erweitern. ›Ich strampele mich ab, um meinen<br />

Hintern im Machbaren zu halten‹, lautet ein<br />

Kernsatz aus den aufgezeichneten Interviews.<br />

So unterschiedlich die skizzierten Biografien<br />

und Lebensperspektiven sind, ein paar<br />

verallgemeinernde Gedanken lassen sich ihnen<br />

dennoch entnehmen.<br />

Mit <strong>der</strong> Agenda 2010 sind zahlreiche<br />

Frauen in die Armut gedrängt worden, die bis<br />

dahin noch Anschluss an den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

gehalten hatten und über verschiedene Formen<br />

gesellschaftlichen Engagements sozial<br />

integriert waren. Dies betrifft vor allem jüngere<br />

Frauen und alleinerziehende Frauen mit<br />

einer guten Ausbildung.<br />

Mit den bestehenden Hartz-IV-Bedarfssätzen<br />

kann niemand auskommen, <strong>der</strong> etwas an<strong>der</strong>es<br />

vom Leben möchte, als nicht zu verhungern.<br />

Da<strong>bei</strong> ist es beson<strong>der</strong>s erschreckend, wie<br />

bereits Kin<strong>der</strong> stigmatisiert werden und von<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen<br />

werden. Daran wird die sogenannte Chipkarte<br />

in ihrer <strong>der</strong>zeit geplanten Form nichts<br />

än<strong>der</strong>n.

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