Rechtsgutachten - MBWSV NRW
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3. Systemgerechtigkeit als Verfassungspostulat?<br />
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und anderer Gerichte hat zuneh-<br />
mend Rationalitätsanforderungen an die Rechtsetzung gestellt 69 . Dabei spielen Gedan-<br />
ken der Systemgerechtigkeit bzw. Folgerichtigkeit eine wesentliche Rolle. Im Zuge der<br />
sog. kommunalen Gebietsreform der 1970er Jahre war es zu derartigen Kontrollmaß-<br />
stäben, etwa der Landesverfassungsgerichte gekommen. Neuerdings wird die Systemge-<br />
rechtigkeit / Folgerichtigkeit als Maßstab im Steuerverfassungsrecht verstärkt bemüht.<br />
Infolge der weitgehend leer laufenden freiheitsrechtlichen Kontrolle von Steuergeset-<br />
zen, stellt der Grundsatz der Systemgerechtigkeit – oftmals als auch Folgerichtigkeitsge-<br />
bot bezeichnet 70 – ein wichtiges Instrument für den verfassungsrechtlichen Zugriff auf<br />
steuerrechtliche Regelungen dar 71. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der<br />
überwiegende Teil der Literatur 72 erblicken im Topos der Systemgerechtigkeit einen die<br />
Prüfung des Gleichheitssatzes effektuierenden und operationalisierenden Grundsatz 73:<br />
Der Gesetzgeber sei aus Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet, die einmal getroffene „Belastungs-<br />
grundentscheidung“, das System, folgerichtig weiter zu entwickeln. Dabei kommt dem<br />
Grundsatz der Systemgerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen des Gleichheitssatzes Be-<br />
deutung zu: Zum einen wird bereits im Rahmen der Feststellung einer (Un-<br />
)Gleichbehandlung mit der Vergleichsgruppenbildung durch das System argumentiert 74 ,<br />
zum anderen wird die Relevanz von Systemgerechtigkeit insbesondere für die Stufe der<br />
Rechtfertigung diskutiert 75 . Dabei besteht hinsichtlich letzterer Funktion innerhalb der<br />
69 Vgl. etwa Bernd Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen<br />
Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 ff.<br />
70 Vgl. BVerfGE 84, 239 (271); 99, 246 (264f.); 120, 152 (155); 121, 317 (362); 122, 210 (231); 123, 111<br />
(120).<br />
71 Allgemein zu Systemgerechtigkeit Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des<br />
Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Franz-Josef Peine, Systemgerechtigkeit, 1985; Ulrich Battis,<br />
Systemgerechtigkeit, FS für Hans-Peter Ipsen 1977, S. 11ff.<br />
72 Etwa BVerfGE 60, 16 (40); 116, 164 (200); vgl. die jüngeren Stellungnahmen von Kyrill-Alexander<br />
Schwarz, „Folgerichtigkeit“ im Steuerecht, FS für Josef Isensee, 2007, S. 949 (957ff.); Klaus-Dieter Drüen,<br />
Systembildung und Systembindung im Steuerrecht, FS für Wolfgang Spindler, 2011, S. 29; Rolf Eckhoff,<br />
Steuerrecht ohne System, FS für Udo Steiner, 2009, S. 119 (120 ff.); Joachim Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht<br />
als Verfassungsgebot, FS für Joachim Lang, 2011, S. 167 (172 ff.).<br />
73 Kritisch hierzu Ulrich Battis, Systemgerechtigkeit, in: FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 11 (29 f.). Daneben<br />
wird Systemgerechtigkeit teilweise auch in anderen Verfassungsgeboten lokalisiert, so etwa im<br />
Rechtstaatsprinzip (BVerfGE 7, 129 (152f.)) oder innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung (BVerfGE<br />
121, 317 (363ff.)).<br />
74 BVerfGE 9, 20 (28); eher skeptisch BVerfGE 34, 103 (115ff.); 36, 383 (393f.); vgl. auch Franz-Josef Peine,<br />
Systemgerechtigkeit, 1985, S. 54, 302; Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des<br />
Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 52.<br />
75 Insgesamt zu den Rechtfertigungsanforderungen an eine Durchbrechung der Folgerichtigkeit Joachim<br />
Englisch, Folgerichtiges Steuerrecht als Verfassungsgebot, FS für Joachim Lang, 2011, S. 167, (195 ff.).