Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch
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sein? Der Satz ‘I<strong>ch</strong> bin ein Lügner’ drückt so viele Wahrheiten aus wie es Lügner gibt, also<br />
ziemli<strong>ch</strong> viele. Er ist logis<strong>ch</strong> harmlos, <strong>und</strong> <strong>Bolzano</strong> hat seine logis<strong>ch</strong>e Harmlosigkeit erkannt.<br />
Verkannt hat er <strong>die</strong> logis<strong>ch</strong>e Brisanz der heute unter dem Titel ‘Der Lügner’ kursierenden<br />
Antinomie. Werfen wir einen Blick auf ihre älteste überlieferte Formulierung. Cicero hat <strong>die</strong><br />
Titelfigur in seinem Dialog Lucullus (45-43 v. Chr.) den Skeptizismus der Neueren Akademie<br />
kritisieren lassen. Im Verlauf s<strong>einer</strong> Metakritik will er nun <strong>die</strong> stois<strong>ch</strong>e Definition des Aussage-<br />
satzes (DJB8&?, von Cicero mit ecfatum übersetzt) ins Wanken bringen, wenn er s<strong>ch</strong>reibt: 31<br />
Wie steht es nun um <strong>die</strong> folgenden Aussagesätze, – sind sie wahr oder fals<strong>ch</strong> (haec vera an<br />
falsa sunt):<br />
[1 ? ] ‘Wenn du sagst, dass du lügst ? , <strong>und</strong> wenn du damit Wahres sagst, dann lügst ? du’ < <strong>und</strong><br />
‘si te mentiri dicis idque verum dicis, mentiris’ < et<br />
[2 ? ] ‘Wenn du sagst, dass du lügst ? , <strong>und</strong> wenn du damit lügst ? , dann > sagst du Wahres’<br />
‘si te mentiri dicis idque mentiris, > verum dicis’) ?<br />
Natürli<strong>ch</strong> sagt ihr, sie seien unerklärbar (haec … inexplicabilia esse)… I<strong>ch</strong> frage nun: wenn<br />
sie ni<strong>ch</strong>t erklärbar sind <strong>und</strong> wenn si<strong>ch</strong> kein Kriterium (iudicium) finden lässt, mit dessen Hilfe<br />
si<strong>ch</strong> <strong>die</strong> Frage beantworten ließe, ob es si<strong>ch</strong> bei ihnen um Wahres oder um Fals<strong>ch</strong>es handelt,<br />
wo bleibt dann eure Definition des Aussagesatzes als desjenigen, was wahr oder fals<strong>ch</strong><br />
ist?<br />
(Die kleinen Fragezei<strong>ch</strong>en in m<strong>einer</strong> Übersetzung werde i<strong>ch</strong> bald erklären.) Offenk<strong>und</strong>ig kann<br />
<strong>Bolzano</strong> bei dem Lügner-Trugs<strong>ch</strong>luss ‘(1)-(5)’ ni<strong>ch</strong>t <strong>die</strong>sen Text im Auge gehabt haben. 32 Cicero<br />
erwähnt Eubulides ni<strong>ch</strong>t, 33 aber er s<strong>ch</strong>eint den grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Titel des Arguments auf <strong>die</strong>se Anti-<br />
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />
31 Lucullus (=: Academica priora, Bu<strong>ch</strong> II), § 95. Der Text ist in allen Codices lückenhaft. Wie Hülser<br />
fr. 1212 <strong>und</strong> Cavini (1993) 91 folge i<strong>ch</strong> dem Ergänzungsvors<strong>ch</strong>lag, den Otto Plasberg 1908 gema<strong>ch</strong>t<br />
<strong>und</strong> in [s. Bibl.] Cicero-(B) 73 im Apparat wiederholt hat. Rüstow 89 ergänzt zwis<strong>ch</strong>en den spitzen<br />
Klammern nur das Wort ‘an (oder)’, wie s<strong>ch</strong>on James Reid in Cicero-(A) u. neuerdings wieder Olof Gigon<br />
in Cicero-(C) 210 f. Au<strong>ch</strong> Spade (1973) II.298 f. verwendet den Text in Cicero-(A). (Er übersetzt das<br />
konjunktive Antecedens von [1] fals<strong>ch</strong> mit „If you lie and speak that truth“, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Fehler kehrt dann<br />
in Spade/Read § 1.1 wieder, wo der unverständli<strong>ch</strong>e englis<strong>ch</strong>e Satz als „fairly clear formulation“ gelobt<br />
wird.) Gegen den Text in Cicero-(A/C) ma<strong>ch</strong>t Walter Cavini (loc. cit.) zu Re<strong>ch</strong>t u.a. geltend, dass Cicero<br />
im Plural von inexplicabilia spri<strong>ch</strong>t: erst Plasbergs Konjektur liefert uns in Gestalt der Konditionale zwei<br />
Kandidaten für <strong>die</strong>se Rolle. Eine Erste-Person-Variante des rekonstruierten Konditionals [2] findet man<br />
im Lexikon des Placidus [fl. (?) 550 n. Chr.]: „si dico < me > mentiri et mentior, verum dico“ [Rüstow<br />
102; Hülser fr. 1217]. Zur sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> sehr unbefriedigenden Fortsetzung der obigen Passage in Acad. Pr.<br />
II.96-98 <strong>und</strong> zu den drei Stellen, an denen Cicero das Argument (immer in einem Atemzug mit dem Sorites)<br />
nur erwähnt: Acad. Pr. II.147, De div. II.11 (s.u.) <strong>und</strong> Hortensius [in Cicero-(C) 64], vgl. Rüstow 88-<br />
91. – Im Gegensatz zu <strong>Bolzano</strong> verstehen sowohl Hegel (op. cit. 135) als au<strong>ch</strong> Fries (loc. cit.) unter dem<br />
Pseudómenos des Eubulides <strong>die</strong> ‘Lügner’-Antinomie in Ciceros Version, <strong>und</strong> sie dürften damit der historis<strong>ch</strong>en<br />
Wahrheit näher kommen.<br />
32 Ni<strong>ch</strong>t dass <strong>Bolzano</strong> <strong>die</strong>ses Werk Ciceros ni<strong>ch</strong>t kennen würde! Er zieht es in seinem Trugs<strong>ch</strong>luss-<br />
Paragraphen auf S. 494-495 heran, wenn er den Sorites bespri<strong>ch</strong>t. [Dabei verwendet er – wie Bayle<br />
(1697) passim, Hegel (loc. cit.) <strong>und</strong> Fries (loc. cit.) – den Titel ‘Acad[emicae] quaest[iones]’. In Bd. IV.1<br />
(Züri<strong>ch</strong> 1828) der in s<strong>einer</strong> Privatbibliothek stehenden Cicero-Ausgabe von Johann Caspar v. Orelli heißt<br />
das Werk ‘Academica priora’: B-Bibl 106-7.]<br />
33 Pace Eldridge-Smith (2004) 78: „We know about Eubulides’ formulation indirectly from Cicero.“