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Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch

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Droht hier ein Widerspru<strong>ch</strong>? Wenn Epimenides Re<strong>ch</strong>t hat, dann ist seine Behauptung wie jede<br />

andere Behauptung eines Kreters eine Lüge. Soweit ist kein Paradox in Si<strong>ch</strong>t, denn eine Behaup-<br />

tung kann au<strong>ch</strong> dann eine Lüge sein, wenn das Behauptete wahr ist. Wie wir in § 1.1 sahen,<br />

räumt <strong>Bolzano</strong>s Erklärung des Begriffs der Lüge <strong>die</strong>se Mögli<strong>ch</strong>keit au<strong>ch</strong> ein.<br />

Au<strong>ch</strong> Gottlob Frege erklärt den Begriff der Lüge so, dass daraus, dass eine Behauptung<br />

eine Lüge ist, ni<strong>ch</strong>t folgt, dass sie fals<strong>ch</strong> ist. Na<strong>ch</strong> s<strong>einer</strong> Erklärung lügt jemand genau dann,<br />

wenn er etwas behauptet, was er für fals<strong>ch</strong> hält. 157 Frege hat <strong>die</strong> F-Antinomie nie erörtert. Dass er<br />

ein paar Jahre vor Russell das sogenannte Paradox des Epimenides (ohne es so zu nennen) im-<br />

merhin gestreift hat, s<strong>ch</strong>eint bislang ni<strong>ch</strong>t einmal <strong>die</strong> Aufmerksamkeit von Frege-Fors<strong>ch</strong>ern er-<br />

regt zu haben. ‘Gestreift’ sage i<strong>ch</strong>, weil mein Beleg ein einziger Satz in einem von Frege selber<br />

gar ni<strong>ch</strong>t publizierten Text ist:<br />

[Jemand kann] dur<strong>ch</strong> seine Behauptung dem[,] was er behauptet[,] widerspre<strong>ch</strong>en, …<br />

wie ein Kreter, der sagte, dass alle Kreter l[ü]gen. 158<br />

Gewiss würde ein Kreter, der beispielsweise behauptet, dass kein Kreter jemals etwas behauptet,<br />

„dur<strong>ch</strong> seine Behauptung [i.e. dur<strong>ch</strong> sein Behaupten] dem, was er behauptet, widerspre<strong>ch</strong>en“, –<br />

genauer: <strong>die</strong> Tatsa<strong>ch</strong>e, dass ein Kreter <strong>die</strong>sen Akt vollzieht, würde das widerlegen, was er be-<br />

hauptet. Nun wird dem Kreter Epimenides in der Literatur oft na<strong>ch</strong>gesagt, er habe behauptet:<br />

(*) Jeder Kreter lügt [sc. wann immer er eine Behauptung aufstellt].<br />

Widerspri<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> er dur<strong>ch</strong> das Aufstellen <strong>die</strong>ser Behauptung dem, was er behauptet? Nehmen<br />

wir mit Frege an, dass jemand lügt, wenn <strong>und</strong> nur wenn er etwas behauptet, das er für fals<strong>ch</strong> hält.<br />

Dann läuft (*) darauf hinaus, dass Kreter alles, was sie behaupten, für fals<strong>ch</strong> halten. Dem Gehalt<br />

s<strong>einer</strong> Behauptung zufolge ist der Kreter Epimenides also jemand, der für fals<strong>ch</strong> hält, was er ge-<br />

rade sagt, aber indem er eine Behauptung aufstellt, präsentiert er si<strong>ch</strong> als jemand, der für wahr<br />

hält, was er gerade sagt. Wer sowohl <strong>die</strong> Einstellung hat, <strong>die</strong> Epimenides s<strong>einer</strong> Behauptung zu-<br />

folge hat, als au<strong>ch</strong> <strong>die</strong> Einstellung, <strong>die</strong> Epimenides dur<strong>ch</strong> sein Behaupten k<strong>und</strong>tut, der hat Über-<br />

zeugungen, <strong>die</strong> si<strong>ch</strong> flagrant widerspre<strong>ch</strong>en: er hält das, was er behauptet, sowohl für fals<strong>ch</strong> als<br />

au<strong>ch</strong> für wahr; aber <strong>die</strong> Aussage, dass es so um jemanden steht, ist natürli<strong>ch</strong> selber widerspru<strong>ch</strong>s-<br />

frei. Do<strong>ch</strong> anders als in unserem Verglei<strong>ch</strong>sfall des imaginären Kreters, der behauptet, dass kein<br />

Kreter jemals etwas behauptet, widerlegt <strong>die</strong> Tatsa<strong>ch</strong>e, dass Epimenides ein Kreter ist <strong>und</strong> (*)<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

157 Frege (1892) 37, Anm. 8. I<strong>ch</strong> diskutiere <strong>die</strong>se Begriffsanalyse in Künne (2010) 439-441. Der in<br />

unserem Zusammenhang ni<strong>ch</strong>t wi<strong>ch</strong>tige Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en den Definitionen <strong>Bolzano</strong>s <strong>und</strong> Freges<br />

besteht darin, dass nur <strong>Bolzano</strong> dem Lügner eine Täus<strong>ch</strong>ungsabsi<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>sagt. Das tun übrigens au<strong>ch</strong><br />

Moore (1948/49) 381, Barwise & Et<strong>ch</strong>emendy (1987) 3 <strong>und</strong> Sainsbury (2009) 127.<br />

158 Frege (1969) 144, in einem mit ‘Logik’ übers<strong>ch</strong>riebenen Text, der frühestens 1897 verfasst wurde.

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