Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch

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2. „EIN SICH SELBST ZERSTÖRENDER SATZ“? BOLZANO UND SAVONAROLA.
2.1 Savonarola über die Antinomie der Falschheit.
In einer langen Anmerkung zum Paragraphen 19 im ersten Band der WISSENSCHAFTSLEHRE erör-
tert Bolzano die Exposition und Diagnose der F-Antinomie in Girolamo Savonarolas 1492 er-
schienenem Compendium logicae. 70 Der Verfasser dieses kleinen Handbuchs ist besser bekannt
als der zornglühende dominikanische Bußprediger, der 1498 in Florenz auf Betreiben der römi-
schen Kurie verhaftet, gefoltert, aufgehängt und – sicher ist sicher? – verbrannt wurde. Dass Sa-
vonarolas gebildete Zeitgenossen ihm hohe philosophische Kompetenz attestierten, bezeugt der
Florentiner Humanist Pietro Crinito, wenn er von einem Gespräch über die Philosophie der Alten
berichtet, das Giovanni Pico della Mirandola mit dem von ihm bewunderten Frate geführt habe:
„Neulich saßen wir zusammen in Marciana academia [i.e. im Kloster San Marco in Florenz] bei
Hieronymus Savonarola, der in unserem Zeitalter in nahezu jedem Gebiet der Philosophie sehr
weit herausragt (qui aetate nostra in omni prope philosophia maxime praestat).“ 71 Fra Girolamo
hat seinen Abriss der Logik – oder eine erste Fassung desselben – 1484 in San Marco als Lehr-
buch für die Ausbildung der Novizen geschrieben. 72 An den Klosterschulen des Dominikaner-
Ordens war ein zweijähriges studium logicae obligatorisch. Savonarolas Compendium wurde an
diesen Schulen dann viel benützt, – die Dominikaner von Leipzig rühmten es auf dem Titelblatt
der Ausgabe, die sie 1516 besorgten, wegen seiner Kürze und ‘mathematischen Vorgehenswei-
se’. 73 Das Buch geriet dann genau wie die anderen philosophischen Schriften des Frate weitge-
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
70 Bolzano, WL I 78-80; Savonarola, Logica 151, Zeilen 6-24. Fra Girolamo bespricht die Paradoxie
im Liber decimus: De syllogismo sophistico (wir würden die libri des schmalen Handbuchs Kapitel nennen)
unter der Nr. 18: Insolubile propositum nec est concedendum nec negandum. (Auf die Terminologie
komme ich noch zu sprechen.) Zur Druckgeschichte von Savonarolas Abriss der Logik vgl. ANHANG III:
Bolzano benutzt die 1516 in Leipzig erschienene Ausgabe. In dem Überblick über die Diskussionen der
F-Antinomie zwischen 1400 und 1700, den wir Jennifer Ashworth verdanken, wird Savonarola erwähnt:
(1972) 35, 37. (Ihre Behauptung, Savonarola biete kein Argument dafür, dass sein F-Satz eigentlich gar
kein Satz ist, hoffe ich widerlegen zu können.)
71 Crinito (1504), lib. III, cap. ii. Auf diese Stelle verwies schon Pasquale Villari (1859) 99.
72 Savonarola (1982), Nota Critica, 374. Im Nachlass des Frate fand sich auch das 11. Buch des Compendium,
„Hundert logische Probleme (centum quaestiones logicales)“, das er bei der Drucklegung weggelassen
hatte. Es wurde erstmals in Savonarola (1982) 161-208 veröffentlicht. Die Beschäftigung mit
diesen (nicht selten metaphysischen) Fragen sollen den Novizen den Übergang zur Philosophie erleichtern
(ebd. 208).
73 Was ist hier mit ‘mos mathematicus’ gemeint? In einem Beiseite hat Massimo Mugnai diese Frage
vor kurzem im Blick auf Savonarolas eigenes Vorwort zum Compendium aufgeworfen: “As is well
known, humanists and Renaissance thinkers fiercely reacted against … scholastic logic… [F]rom the first
half of the fifteenth century onwards the standard of rigorous reasoning began to be identified with Euclid’s
Elements, not with the Aristotelian Organon… In the logic books of this period it was not uncommon
to find expressed the purpose of developing old-fashioned logical matters according to the rigorous
method followed by mathematicians… Savonarola …, for example, introducing his treatise on logic…,
feels obliged to criticize the obscurity and sophistry which afflict the Aristotelian logic and to state that he