Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch
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vollzieht er genau <strong>die</strong> Tätigkeit, <strong>die</strong> er si<strong>ch</strong> mit (L) zus<strong>ch</strong>reibt. Diese Tätigkeit besteht darin, zu<br />
lügen. Also: wenn der (L)-Äußerer etwas Wahres sagt, dann lügt er. So weit, so gut. Aber Moore<br />
wendet zu Re<strong>ch</strong>t ein: Mit der Verknüpfung beider Konditionale zu einem Bikonditional kommt<br />
no<strong>ch</strong> keine Paradoxie ans Tagesli<strong>ch</strong>t. Dazu kommt es nur unter der fals<strong>ch</strong>en Voraussetzung, dass<br />
jemand nur dann lügt, wenn er etwas Fals<strong>ch</strong>es sagt. Denn dann impliziert das Bikonditional, dass<br />
man mit (L) genau dann etwas Wahres sagt, wenn man mit (L) etwas Fals<strong>ch</strong>es sagt. 59<br />
Moore bemerkt no<strong>ch</strong> einen weiteren Defekt in Russells Exposition der Paradoxie. 60 An-<br />
genommen, jemand murmelt ‘I am lying’, während er s<strong>einer</strong> Fre<strong>und</strong>in s<strong>ch</strong>reibt: ‘I love you’.<br />
Wenn er weiß, dass er sie ni<strong>ch</strong>t mehr liebt, dann sagt er in s<strong>einer</strong> mündli<strong>ch</strong>en Äußerung etwas<br />
Wahres. Man kann <strong>die</strong>se Situation mit Russells eigenen Worten bes<strong>ch</strong>reiben: „if he is lying [in<br />
his letter], he is speaking the truth [in his oral comment on his letter], and vice versa“; aber ein<br />
Paradox ist ni<strong>ch</strong>t in Si<strong>ch</strong>t. Zwei Seiten später sagt Russell über (L): 61<br />
When a man says ‘I am lying‘, we may interpret his statement as:<br />
‘There is a proposition whi<strong>ch</strong> I am affirming and whi<strong>ch</strong> is false’.<br />
I<strong>ch</strong> glaube ni<strong>ch</strong>t, dass wir das dürfen; denn <strong>die</strong>se Interpretation von (L) ist eine Fehldeutung. 62<br />
Und au<strong>ch</strong> wenn unser Briefs<strong>ch</strong>reiber den zweiten Satz oder (F), ‘I<strong>ch</strong> sage [jetzt gerade] etwas<br />
Fals<strong>ch</strong>es’, im Blick auf seine s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Versi<strong>ch</strong>erung äußern würde, entstünde kein Paradox.<br />
Es genügt also ni<strong>ch</strong>t, jemandem <strong>die</strong>se Worte in den M<strong>und</strong> zu legen, um ein Paradox herbeizufüh-<br />
ren. Was wir dafür benötigen, ist so etwas wie<br />
(F refl) I<strong>ch</strong> sage mit <strong>die</strong>sen (!) Worten etwas Fals<strong>ch</strong>es,<br />
wobei das Pfeilsymbol (hier wie im Rest <strong>die</strong>ses Aufsatzes) eine reflexive Deutung anmahnen<br />
soll: man brau<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t über den Tellerrand des Satzes hinauszus<strong>ch</strong>auen, um das Denotat der<br />
demonstrativen Kennzei<strong>ch</strong>nung zu finden, – sie <strong>die</strong>nt der Bezugnahme auf den Satz, in dem sie<br />
vorkommt. (Bestimmt haben Russell <strong>und</strong> seine antiken Vorläufer <strong>die</strong> reflexive Deutung von (F)<br />
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59 Moore (1948/49) 382. Mates wiederholt Russells S<strong>ch</strong>nitzer, wenn er s<strong>ch</strong>reibt: ‘If a man says “I am<br />
lying,” what he says is true if and only if it is false’ [ders. (1981) 18]. Wenn wahr ist, was der Mann von<br />
si<strong>ch</strong> sagt, dann ist seine Äußerung eine Lüge; daraus folgt ni<strong>ch</strong>t, dass er etwas Fals<strong>ch</strong>es sagt. – Moore<br />
kann 1948/49 in seinen Notebooks an langjährige Bes<strong>ch</strong>äftigung mit Russells Text anknüpfen: „As for his<br />
Introduction to Principia Mathematica [<strong>und</strong> fünf andere Werke Russells], I have … lectured in detail on<br />
particular passages … on various occasions … at Cambridge. Of course, … my lectures on what he has<br />
written have always been partly critical. But I should say that I certainly have been more influenced by<br />
him than by any other single philosopher“ [Moore (1942) 16].<br />
60 Moore (1948/49) 383; vgl. au<strong>ch</strong> (1962) 291. I<strong>ch</strong> ersetze sein Beispiel dur<strong>ch</strong> ein anderes.<br />
61 Russell (1908) 61 = (1910) 65; zuerst wohl in Russell (1906) 207.<br />
62 Frank Ramsey behauptet sogar, man müsse ‘I<strong>ch</strong> lüge jetzt gerade’ im Sinne von ‘Es verhält si<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t so, wie i<strong>ch</strong> jetzt gerade behaupte’ verstehen: Ramsey (1925) 48, <strong>und</strong> aus „may be interpreted as“<br />
wird in Russell (1940, Kap. 4) „i.e.“. Zu Russell <strong>und</strong> Ramsey vgl. wiederum Moore (1948/49) 382-383 u.<br />
(1962) 291.