Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch
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<strong>die</strong> gängige Übersetzung ‘der Lügner’ korrekt, – meinen Vorbehalt werde i<strong>ch</strong> bald erklären. Ei-<br />
gentli<strong>ch</strong> behauptet Diogenes Laërtios ni<strong>ch</strong>t, dass Eubulides das Argument mit <strong>die</strong>sem Spitzna-<br />
men (oder eines der anderen in s<strong>einer</strong> Liste) erf<strong>und</strong>en hat, 28 <strong>und</strong> über <strong>die</strong> Inhalte der aufgelisteten<br />
Argumente erfährt man gar ni<strong>ch</strong>ts.<br />
Die zur Vorsi<strong>ch</strong>t beim Umgang mit dem Argument mahnende Anekdote über Philetas<br />
könnte <strong>Bolzano</strong> bei Athénaios gelesen haben, der das Epitaph <strong>die</strong>ses Di<strong>ch</strong>ters <strong>und</strong> Spra<strong>ch</strong>gelehr-<br />
ten von der ostägäis<strong>ch</strong>en Insel Kos überliefert hat: „Wanderer, i<strong>ch</strong> bin Philetas. Von den Argu-<br />
menten hat mi<strong>ch</strong> der Pseudómenos / Zugr<strong>und</strong>e geri<strong>ch</strong>tet <strong>und</strong> das abendli<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>denken über<br />
.“ 29 Ein Oxforder Dozent hat <strong>die</strong>se Grabins<strong>ch</strong>rift tongue in <strong>ch</strong>eek kommentiert <strong>und</strong><br />
übersetzt: 30<br />
[H]e grew thin and <strong>die</strong>d of the Liar, and his epitaph served<br />
as a solemn reminder to poets not to meddle with logic –<br />
Philetas of Cos am I,<br />
’Twas the Liar who made me <strong>die</strong>,<br />
And the bad nights caused thereby.<br />
Perhaps we owe him an apology for the translation.<br />
(Das Epitaph klingt hier wie ein Fragment eines Limericks.) S<strong>ch</strong>on <strong>die</strong>se Anekdote lässt Bolza-<br />
nos Zuordnung unplausibel ers<strong>ch</strong>einen: Kann <strong>die</strong> Bemühung, den Fehler im Trugs<strong>ch</strong>luss ‘(1)-<br />
(5)’ zu entdecken, für Philetas’ Abmagerung, S<strong>ch</strong>laflosigkeit <strong>und</strong> vorzeitigen Tod verantwortli<strong>ch</strong><br />
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />
Wird das Partizip mit ‘4%6()’ verknüpft wie z.B. in D.L. VII.44, 196-197, so wird aus ‘der Kahlköpfige’<br />
etc. so etwas wie ‘das Kahlkopf-Argument’.<br />
28 Sogar Rüstow ist hier unvorsi<strong>ch</strong>tig: Rüstow 42-43. (Unter den elf von mir dur<strong>ch</strong>gesehenen Übersetzungen<br />
des Relati<strong>vs</strong>atzes (s.o.), mit dem Eubulides von D.L. vorgestellt wird, sind keine zwei synonym:<br />
s.u. ANHANG II.)<br />
29 Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong> in Rüstow 101; Döring 110; Hülser, Bd. II, S. 834-835. < An der dur<strong>ch</strong> spitze Klammern<br />
gekennzei<strong>ch</strong>neten Stelle ist der grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Text unsi<strong>ch</strong>er. > Die Anekdote über Philetas oder Philitas<br />
[fl. 300 v. Chr.] erzählt der S<strong>ch</strong>riftsteller Athenaios aus dem ägyptis<strong>ch</strong>en Naukratis [fl. 190 n. Chr.] in<br />
seinen !"#$%&'&(#')*+ (Gelehrte beim Gastmahl), Bu<strong>ch</strong> IX, Kap. 64, 401e. Spätestens seit Mitte des 17.<br />
Jh. erfreut si<strong>ch</strong> <strong>die</strong>se Anekdote einiger Beliebtheit. Pierre Gassendi, für den <strong>die</strong> ‘Lügner’-Paradoxie <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> anderen von D.L. aufgelisteten Argumente „ni<strong>ch</strong>ts anderes als Fangs<strong>ch</strong>lüsse (nihil aliud quam captiosae<br />
quaedam rationes)“ waren, ließ si<strong>ch</strong> das Epitaph ni<strong>ch</strong>t entgehen, <strong>und</strong> Pierre Bayle bemerkte dazu:<br />
„Man kann ohne Übertreibung <strong>und</strong> bu<strong>ch</strong>stäbli<strong>ch</strong> sagen, dass <strong>die</strong> Erfindungen (inventions) des Eubulides<br />
todbringende Sophismen waren (des Sophismes à tuer les gens)“ [Gassendi (1658) 40; Bayle (1697) 415].<br />
<strong>Bolzano</strong> könnte Athenaios’ Bu<strong>ch</strong> in Isaac Casaubons grie<strong>ch</strong>.-lat. Ausgabe (Heidelberg 1597, Lyon 4 1664) eingesehen<br />
haben. Diese Ausgabe wird just wegen des Epitaphs in Hegel (1833) 136 angeführt. Ein viel späterer Beleg für <strong>die</strong>se Anekdote<br />
findet si<strong>ch</strong> in dem Artikel ‘Philitas’ <strong>einer</strong> grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Enzyklopä<strong>die</strong> aus byzantinis<strong>ch</strong>er Zeit (ca. 970 n. Chr.), <strong>die</strong> unter den<br />
Namen Suda <strong>und</strong> Suidas überliefert ist, <strong>und</strong> au<strong>ch</strong> <strong>die</strong>ser Artikel wird in Hegels Vorlesungen an <strong>die</strong>ser Stelle als Quelle erwähnt<br />
[<strong>und</strong> in Rüstow 101 zitiert]. In WL I 39 nimmt <strong>Bolzano</strong> auf <strong>die</strong>sen Band der Werke Hegels Bezug, – viellei<strong>ch</strong>t kannte er <strong>die</strong><br />
Anekdote also au<strong>ch</strong> daher. Er könnte sie au<strong>ch</strong> einem Opponenten Hegels verdanken. Jakob Friedri<strong>ch</strong> Fries beruft si<strong>ch</strong> ebenfalls<br />
auf Athenaios <strong>und</strong> Suidas, wenn er in seinem System der Logik erzählt, dass Philetas si<strong>ch</strong> am „!"#$%&"'() des Eubulides … zu<br />
Tode studirt haben soll“: Fries ( 1 1811) 470 = ( 3 1837) 356. Dieser Formulierung be<strong>die</strong>nt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> <strong>Bolzano</strong>, <strong>und</strong> er kannte Fries’<br />
Bu<strong>ch</strong>: in ganz anderen Zusammenhängen setzt er si<strong>ch</strong> in der WL wiederholt mit ihm auseinander, – ein Exemplar der 2. Auflage<br />
gehörte zu s<strong>einer</strong> Privatbibliothek (B-Bibl 158).<br />
30 Stock (1908) 36.