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Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch

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ing?) hinwegzusetzen, <strong>die</strong> in ihren Kreisen nun einmal befolgt wird. 66 Wäre es ni<strong>ch</strong>t besser, <strong>die</strong>-<br />

ser s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Konvention endli<strong>ch</strong> <strong>die</strong> Gefolgs<strong>ch</strong>aft zu versagen, statt sie nun au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> auf<br />

Russells paradoxienfreie Bes<strong>ch</strong>reibung eines sehr ungewöhnli<strong>ch</strong>en Charakters anzuwenden?<br />

Aber kehren wir lieber zu der wirkli<strong>ch</strong>en Paradoxie <strong>und</strong> ihrer <strong>Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te</strong> zurück.<br />

Es könnte sein, 67 dass s<strong>ch</strong>on Eubulides <strong>die</strong> logis<strong>ch</strong> fatale Lage erörtert hat, in <strong>die</strong> man ge-<br />

rät, wenn man <strong>die</strong> folgende Frage zu beantworten versu<strong>ch</strong>t: Sagt man mit (F refl) etwas Wahres<br />

oder etwas Fals<strong>ch</strong>es? Dass Theophrast <strong>und</strong> Chrysipp über <strong>die</strong> F-Antinomie so viel ges<strong>ch</strong>rieben<br />

haben, wie Diogenes Laërtios behauptet, kann man si<strong>ch</strong> angesi<strong>ch</strong>ts der ‘Liar’-Industrie seit Mitte<br />

der 70-er Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts sehr gut vorstellen, <strong>und</strong> au<strong>ch</strong> <strong>die</strong> Annahme, dass gar zu<br />

intensives Na<strong>ch</strong>denken über <strong>die</strong>ses Problem das Leben des armen Philetas verkürzt haben könn-<br />

te, ist keineswegs abwegig. Viellei<strong>ch</strong>t hätte er länger gelebt, wenn er si<strong>ch</strong> für <strong>die</strong> Problemlösung<br />

ents<strong>ch</strong>ieden hätte, <strong>die</strong> Russell als „Mar<strong>ch</strong> Hare’s solution“ bezei<strong>ch</strong>net: „Suppose we <strong>ch</strong>ange the<br />

subject,“ sagte der Märzhase <strong>und</strong> gähnte. „I’m getting tired of this.“ 68<br />

Au<strong>ch</strong> <strong>Bolzano</strong> hat in seinem Hauptwerk über <strong>die</strong> F-Antinomie na<strong>ch</strong>geda<strong>ch</strong>t. (Leider ist<br />

au<strong>ch</strong> er dabei zu früh müde geworden.) Dort, wo er si<strong>ch</strong> mit dem Paradox bes<strong>ch</strong>äftigt, ist erfreu-<br />

li<strong>ch</strong>erweise nirgendwo von Lügen oder von Lügnern <strong>die</strong> Rede, <strong>und</strong> auf <strong>die</strong>se Stelle verweist er in<br />

seinem Sa<strong>ch</strong>register ni<strong>ch</strong>t; denn der Pseudómenos ist in seinen Augen nun einmal das Argument<br />

‘(1)-(5)’. 69<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

66 Vgl. Eldridge-Smith (2004) 76: „[In this section] lying was equated with saying something false.<br />

Most logicias assume this definition of lying and I will be doing the same… However, we may briefly<br />

consider another definition…“. In Wahrheit hatte er auf den vorangegangenen Seiten mit „assuming lying<br />

involves saying something false“ (75) gar keine Glei<strong>ch</strong>setzung vorgenommen, sondern ‘nur’ eine fals<strong>ch</strong>e<br />

Implikationsannahme gema<strong>ch</strong>t. Die Unterstellung, Logiker hätten bei einem Wort wie ‘Lüge’ Definitionshoheit,<br />

ers<strong>ch</strong>eint mir abwegig. (Hielte man si<strong>ch</strong> an <strong>die</strong> Definition, <strong>die</strong> der Vf. ans<strong>ch</strong>ließend kurz betra<strong>ch</strong>tet,<br />

so müsste man jedes Verheimli<strong>ch</strong>en als Lüge klassifizieren.)<br />

67 Die in der Literatur meist zur S<strong>ch</strong>au getragene Gewissheit ist dur<strong>ch</strong> <strong>die</strong> Überlieferungslage ni<strong>ch</strong>t<br />

gere<strong>ch</strong>tfertigt. Cavini (1993) 102 s<strong>ch</strong>reibt <strong>die</strong> F-Antinomie mit gewi<strong>ch</strong>tigen Gründen Chrysipp zu, – er<br />

muss dabei freili<strong>ch</strong> sowohl der Versi<strong>ch</strong>erung des D.L., Theophrast habe 3 Bü<strong>ch</strong>er über <strong>die</strong>se Antinomie<br />

ges<strong>ch</strong>rieben, als au<strong>ch</strong> der Philetas-Anekdote jegli<strong>ch</strong>e Relevanz für <strong>die</strong> Bestimmung des Alters des Arguments<br />

abspre<strong>ch</strong>en; denn Chrysipp lebte ein Jahrh<strong>und</strong>ert später als sie. Immerhin, Cicero s<strong>ch</strong>reibt <strong>die</strong> F-<br />

Antinomie nie Eubulides, er s<strong>ch</strong>reibt sie ausdrückli<strong>ch</strong> Chrysipp zu (Acad. Pr. II.96). Hieronymus nennt<br />

eine komprimierte Fassung von Ciceros Konditional [1] Chysippeum sophisma, – in Epistola LXIX, Ad<br />

Oceanum [zw. 395 u. 402 n. Chr.], 2. Abs<strong>ch</strong>nitt (vgl. Rüstow 40, 103). Und um 550 n. Chr. wird eine<br />

Argument-Version von Ciceros Konditional [2], „Dico me mentiri et mentior, verum igitur dico“, in einem<br />

Horaz-Kommentar als „Chrysippi syllogismus“ bezei<strong>ch</strong>net (Rüstow 102; Hülser fr. 1215).<br />

68 Russell (1959) 77; Lewis Carroll, Alice in Wonderland, Kap. VII.<br />

69 Dafür wird man in Friedri<strong>ch</strong> Kambartels nützli<strong>ch</strong>em Sa<strong>ch</strong>register [in <strong>Bolzano</strong> (1963) 376] unter<br />

dem Sti<strong>ch</strong>wort ‘Lügner (Antinomie)’ auf <strong>die</strong> jetzt zu bespre<strong>ch</strong>ende, gänzli<strong>ch</strong> lügenfreie Stelle verwiesen.

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