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Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch

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nomie zu beziehen, <strong>und</strong> er hat au<strong>ch</strong> das lateinis<strong>ch</strong>e Gegenstück ihres Spitznamens geprägt: „Wie<br />

man den Mentiens, den sie Pseudómenos nennen (mentientem quem !"#$%&"'(' vocant) auflöst<br />

…, werden <strong>die</strong> Dialektiker sagen.“ 34 Seneca empfindet das Argument mit <strong>die</strong>sem Titel als eine<br />

Plage, wenn er im Jahre 64 n. Chr. an seinen Fre<strong>und</strong> Lucilius s<strong>ch</strong>reibt: „Was hältst Du mi<strong>ch</strong> mit<br />

dem auf, den Du selbst den Pseudómenos nennst (quem tu ipse pseudomenon appellas), über den<br />

so viele Bü<strong>ch</strong>er abgefasst worden sind?“. 35 Die vielen Papyrus-Rollen, auf <strong>die</strong> Seneca anspielt,<br />

sind alle vers<strong>ch</strong>ollen: drei soll der Aristoteles-Na<strong>ch</strong>folger Theophrast ges<strong>ch</strong>rieben haben <strong>und</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t weniger als ein<strong>und</strong>zwanzig der Stoiker Chrysipp. 36<br />

Wenn wir <strong>die</strong> indirekte Rede in den vorläufig mit [1 ? ] <strong>und</strong> [2 ? ] wiedergegebenen Konditio-<br />

nalen Ciceros in direkte transformieren, wird der folgende Satz als Quelle der sog. ‘Lügner’-<br />

Antinomie si<strong>ch</strong>tbar:<br />

(lat.) (ego) mentior.<br />

In der Spra<strong>ch</strong>e des ni<strong>ch</strong>t überlieferten Originals: 37<br />

(gr.) (36K) !"E$(&?1L!<br />

Damit s<strong>ch</strong>einen wir s<strong>ch</strong>on bei derjenigen Formulierung des Ausgangspunktes der Paradoxie an-<br />

gekommen zu sein, <strong>die</strong> Bertrand Russell in der Einleitung zu den Principia Mathematica als <strong>die</strong><br />

einfa<strong>ch</strong>ste präsentieren wird: „[Its] simplest form … is afforded by the man who says ‘I am<br />

lying’.“ 38 Und es s<strong>ch</strong>eint nun au<strong>ch</strong> klar zu sein, wie der grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Spitzname der Antinomie zu<br />

übersetzen ist: ‘der Lügende’. Aber viellei<strong>ch</strong>t trügt der S<strong>ch</strong>ein. Die Verben in (lat.) <strong>und</strong> (gr.) sind<br />

zweideutig, <strong>und</strong> zwar auf <strong>die</strong>selbe Weise. 39 Es gibt für jeden <strong>die</strong>ser Sätze zwei korrekte Überset-<br />

zungen in unsere Spra<strong>ch</strong>e (<strong>und</strong> in <strong>die</strong> Russells):<br />

!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!<br />

34 Cicero, De divinatione II.11, in Cicero (1991) 142.<br />

35 Seneca, Epistula XLV.10. Gassendi (loc. cit.) zitiert <strong>die</strong>se Bemerkung, <strong>und</strong> Bayle applau<strong>die</strong>rt ihr:<br />

„Es ist gut zu sehen, wie Seneca si<strong>ch</strong> über <strong>die</strong>jenigen lustig ma<strong>ch</strong>t, <strong>die</strong> ihre Zeit mit <strong>die</strong>sen leeren Spitzfindigkeiten<br />

(vaines subtilités) vergeuden“ [Bayle (1697) 415].<br />

[ Cicero <strong>und</strong> Seneca befolgen bei dem grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Wort eine Grammatik-Regel, <strong>die</strong> hier fordert, <strong>die</strong> maskuline Form<br />

des Partizips Präsens in den Akkusativ zu setzen. Warum erwähne i<strong>ch</strong> <strong>die</strong>se grammatis<strong>ch</strong>e Trivialität? In Spade/Read § 1.2 wird<br />

der Paradoxie unter Berufung auf <strong>die</strong> Seneca-Stelle „[the] Greek name ‘pseudomenon’“ zuges<strong>ch</strong>rieben. Womit i<strong>ch</strong> den Vfn. ni<strong>ch</strong>t<br />

<strong>die</strong> Verantwortung für <strong>die</strong> folgende Entwicklung aufbürden will: im Aug. 2011 konnte man in der Wikipedia den Artikel „Liar<br />

paradox (pseudomenon in Ancient Greek)“ lesen, <strong>und</strong> bei dem Online-Händler THINKGEEK konnte man ein Pseudomenon Phenomenon<br />

Shirt bestellen: „Only while supplies last!! ! For 2400 years we’ve been trying to figure out this contradiction… It’s<br />

known as the ‘Liar Paradox,’ but the Greeks called it ‘pseudomenon,’ a new word you can tea<strong>ch</strong> your friends when they <strong>ch</strong>eck<br />

out your shirt…This shirt reads ‘This statement is false.’ in white print on a black, 100% cotton t-shirt.“ Sehr bald war’s ausverkauft,<br />

<strong>und</strong> es ist zu befür<strong>ch</strong>ten, dass Fre<strong>und</strong>e der stolzen Besitzer inzwis<strong>ch</strong>en Opfer <strong>einer</strong> fehlgeleiteten Spra<strong>ch</strong>lektion geworden<br />

sind. ]<br />

36 Das behauptet jedenfalls Diogenes Laërtios V.49 u. VII.196-197. Dazu Rüstow 54, 60-86 <strong>und</strong><br />

Cavini (1993) 102, auf dessen Bü<strong>ch</strong>erzählung i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> im Falle Chrysipps verlasse. [Theophrast ‘florierte’<br />

330 v. Chr., Chrysipp h<strong>und</strong>ert Jahre später.]<br />

37 Vgl. aber unten <strong>die</strong> Zitate aus zwei Aristoteles-Kommentaren.<br />

38 S<strong>ch</strong>on in Russell (1908) 59, verbatim übernommen in PM (1910) 63; zuerst wohl in Russell (1906)<br />

197. Vgl. Quine (1962) 7.<br />

39 Vgl. Barnes (2007) 7-8.

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