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Bolzano vs. Savonarola und die Geschichte einer ... - Philosophie.ch

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hend in Vergessenheit. 1859 klagte der Verfasser <strong>einer</strong> bahnbre<strong>ch</strong>enden Gesamtdarstellung Sa-<br />

vonarolas: „[i suoi scritti filosofici] non si troveranno citati in alcun filosofo posteriore.“ 74 Zwei<br />

Jahrzehnte früher hatte <strong>Bolzano</strong> dafür gesorgt, dass das jedenfalls ni<strong>ch</strong>t ganz ri<strong>ch</strong>tig ist. 75<br />

Bei der Exposition der F-Antinomie <strong>und</strong> seinem Vors<strong>ch</strong>lag zu ihrer Auflösung hat Sa-<br />

vonarola (u.a.) den folgenden selbstbezügli<strong>ch</strong>en F-Satz im Blick: 76<br />

Dies ist fals<strong>ch</strong> – wobei dur<strong>ch</strong> das Subjekt auf den Satz selber gezeigt wird<br />

(hoc est falsum, posito quod per subiectum demonstretur ipsamet propositio).<br />

I<strong>ch</strong> nenne einen Satz selbstbezügli<strong>ch</strong>, wenn er einen singulären Term enthält, der ihn bezei<strong>ch</strong>net.<br />

Genau wie <strong>Bolzano</strong> klammere i<strong>ch</strong> im Folgenden <strong>Savonarola</strong>s zweites Beispiel aus, das ebenfalls<br />

eine Antinomie heraufbes<strong>ch</strong>wört, wennglei<strong>ch</strong> nur unter <strong>einer</strong> kontrafaktis<strong>ch</strong>en Voraussetzung: es<br />

ist der Satz „Jeder Satz ist fals<strong>ch</strong> (omnis propositio est falsa)“ in <strong>einer</strong> mögli<strong>ch</strong>en Welt, in der<br />

<strong>die</strong>ser Satz der einzige ist (si ponatur quod solum sit in m<strong>und</strong>o ista propositio). 77 Dieser Satz<br />

enthält keinen ihn bezei<strong>ch</strong>nenden singulären Term. Es liegt hier also kein Selbstbezug im eben<br />

angegebenen Sinn vor – unbes<strong>ch</strong>adet der Tatsa<strong>ch</strong>e, dass <strong>die</strong>ser Satz in <strong>einer</strong> sol<strong>ch</strong>en Welt (intui-<br />

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aims to offer a synthesis of the entire dialectic ‘according to the usual practice of the mathematicians’. If<br />

we look at <strong>Savonarola</strong>’s treatise, however, we easily see that … its logical content is quite traditional and<br />

does not reflect in any sense ‘the usual practice of the mathematicians’“ [Mugnai (2010) 299]. I<strong>ch</strong> halte<br />

das für ein Missverständnis. Der Frate sagt in seinem Vorwort (Logica 3), er wolle den Novizen, <strong>die</strong> u.a.<br />

„wegen der Dunkelheit der Bü<strong>ch</strong>er des Aristoteles“ von dem „so notwendigen Studium“ der Logik abgehalten<br />

werden, dur<strong>ch</strong> eine Darstellung „more mathematico“ den Weg zum Verständnis erlei<strong>ch</strong>tern. Er<br />

verspri<strong>ch</strong>t damit nur, in s<strong>einer</strong> Darstellung der Logik so „kurz <strong>und</strong> bündig, deutli<strong>ch</strong> <strong>und</strong> lei<strong>ch</strong>t zugängli<strong>ch</strong>“<br />

zu sein wie <strong>die</strong> Mathematiker in ihren Handbü<strong>ch</strong>ern. Mit keinem Wort zeiht er Aristoteles der Sophisterei<br />

– das wäre au<strong>ch</strong> angesi<strong>ch</strong>ts s<strong>einer</strong> vielfa<strong>ch</strong>en Berufungen auf das Organon ziemli<strong>ch</strong> abwegig. (Mit gemis<strong>ch</strong>ten<br />

Gefühlen habe i<strong>ch</strong> Mugnais Anm. gelesen: “As a mere curiosity one may remind that Bernard<br />

<strong>Bolzano</strong> … discusses at length <strong>Savonarola</strong>’s proposed solution to the liar’s paradox.” Was dem Einen<br />

eine bloße Kuriosität ist, verführt den Anderen zum S<strong>ch</strong>reiben eines langen Aufsatzes...)<br />

74 Villari 100.<br />

75 In WL IV 82 führt <strong>Bolzano</strong> das Handbu<strong>ch</strong> des Frate no<strong>ch</strong> einmal an: er wendet hier eine Feststellung<br />

im 8. Bu<strong>ch</strong>, Nr. 47 (Logica 112) gegen Fi<strong>ch</strong>te. 1897 wird das Compendium dann in dem Lehrbu<strong>ch</strong><br />

der Aristotelis<strong>ch</strong>-Thomistis<strong>ch</strong>en Logik, das Ernst Commer, ein Mitbegründer des deuts<strong>ch</strong>en Neothomismus,<br />

verfasst hat, wiederholt herangezogen. S<strong>ch</strong>olz zitiert den (zweiten <strong>und</strong> letzten) Hinweis <strong>Bolzano</strong>s<br />

auf das „au<strong>ch</strong> sonst von ihm benutzte, also vermutli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> einmal zu ers<strong>ch</strong>ließende Compendium Logicae“<br />

[S<strong>ch</strong>olz (1937) 223, meine Herv.]. Zu <strong>die</strong>ser Ers<strong>ch</strong>ließung s<strong>ch</strong>eint es bislang ni<strong>ch</strong>t gekommen zu<br />

sein. In den beiden Standard-Werken zur <strong>Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te</strong> der Logik erfährt man fast ni<strong>ch</strong>ts über den Logiker<br />

<strong>Savonarola</strong>. William Kneale (1962) 245 beri<strong>ch</strong>tet nur, dass er ein Vorläufer der Reformation <strong>und</strong> ein Universalienrealist<br />

war. Bo<strong>ch</strong>e#ski registriert nur <strong>die</strong> Existenz von <strong>Savonarola</strong>s Compendium, weist aber in<br />

<strong>einer</strong> Anm. darauf hin, dass sein Ordensbruder ein „bedeutender Logiker“ war: Bo<strong>ch</strong>e!ski 190-191.<br />

76 Logica 1516-8.<br />

77 Logica 15023 - 151 4. Ein Jh. vorher hat Jean Buridan denselben Satz für sein ‘Sophisma’ Nr. 7 verwendet,<br />

aber seine kontrafaktis<strong>ch</strong>e Voraussetzung ist eine andere: er denkt si<strong>ch</strong> eine Äußerung <strong>die</strong>ses<br />

Satzes in <strong>einer</strong> mögli<strong>ch</strong>en Welt, in der zwar au<strong>ch</strong> Anderes gesagt wird, aber nur Fals<strong>ch</strong>es [Buridan (1977)<br />

133-137, (1982) 60-73]. Die dann entstehende Antinomie ist eine Variante des sog. Paradoxie des Epimenides,<br />

<strong>die</strong> wir in § 4 bespre<strong>ch</strong>en werden. – Das Wort ‘Sophisma’ hat im M<strong>und</strong>e der Philosophen des<br />

Mittelalters anders als in der Antike <strong>und</strong> in der Neuzeit (s. Anm. 6, 29, 155) keine pejorative Konnotation.<br />

Sie meinen damit einen logis<strong>ch</strong> rätselhaften Satz.

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