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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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Seit der Odyssee stehen Seereisen für<br />

das Wagnis des Unbekannten, den sträf -<br />

li chen Übermut des Menschen, aber<br />

auch für <strong>die</strong> Rückkehr nach Itha ka, an<br />

den Ort der Geborgenheit, „reich an<br />

dem, was du auf deiner Fahrt gewannst“,<br />

wie es beim griechischen Dichter Kavafis<br />

heißt. Aber der moderne Mensch kennt<br />

kein Ithaka mehr, - nur noch Irrfahrten,<br />

auf denen er sich blindlings fortbewegt.<br />

Von einer solchen ziellosen Odyssee<br />

handelt Blindlings, der jüngste und tiefsinnigste<br />

Roman von Claudio Magris.<br />

Wenn Leser und Schriftsteller Reisende<br />

sind, dann ist der durch alle Wasser der<br />

Weltliteratur gesegelte Magris ein See -<br />

fahrer, der an <strong>die</strong> Möglichkeit der Rückkehr<br />

zweifelt. Als Kind des 20. Jahrhunderts,<br />

das den grausamen Schatten der<br />

Ideologien und den Untergang der Illu -<br />

sio nen mitbekam, kann Magris keine<br />

klassische Reise mehr erzählen, sondern<br />

nur noch ihr Scheitern. Den Bericht <strong>die</strong> -<br />

ser Irrfahrt legt er einem Verrückten in<br />

den Mund, einem der zahllosen Opfer<br />

der unsichtbaren Geschichte: Salvatore<br />

Cippico, dessen kommunistischer Glau -<br />

be ihn in <strong>die</strong> Lager der halben Welt verschlug,<br />

von Dachau bis Goli Otok, der<br />

Todesinsel, auf der Tito stalintreue Ge -<br />

nossen einsperren ließ. Von Freund und<br />

Feind verfolgt strandet er schließ lich in<br />

<strong>die</strong> Verrücktheit.<br />

In Cippicos Wahnbericht, der vom<br />

Arzt einer Irrenanstalt aufgezeichnet<br />

wird, hallen <strong>die</strong> Stimmen anderer unter -<br />

gegangener Opfer der Historie wider:<br />

insbesondere <strong>die</strong> des dänischen Abenteurers<br />

Jørgen Jørgensen, der Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts als selbsternannter<br />

Köni g in Island kurzfristig <strong>die</strong> Werte der<br />

Aufklärung einführen wollte und von<br />

den Engländern als Sträfling nach Tas -<br />

ma nien deportiert wurde, „<strong>die</strong> höllische<br />

Alternative hier unten zur Hölle dort<br />

oben.“ Ironie und Grausamkeit der Ge -<br />

schichte: Jorgensen wird in Hobart<br />

Town eingekerkert, der Stadt, <strong>die</strong> er Jah -<br />

re zuvor als Kolonisator gegründet hatte.<br />

Warum werden Menschen Opfer ihrer<br />

Ideale? Magris sucht eine Antwort im<br />

Mythos der Argonauten, der immer wie -<br />

der in Cippicos Monolog einfließt. <strong>Die</strong><br />

Parabel Jasons, der auf der Suche nach<br />

100<br />

REZENSION<br />

<strong>Die</strong> Revolution und ihre Missionare<br />

Claudio Magris, Reisender und Gedächtniskünstler<br />

dem Goldenen Vlies das Licht der grie -<br />

chischen Ratio in <strong>die</strong> barbarische Kol -<br />

chis bringt und so Medeas Tragö<strong>die</strong> auslöst,<br />

zeigt den unlöslichen Widerspruch<br />

einer Vernunft auf, <strong>die</strong> sich allzuoft mit<br />

Blut befleckt. Das ist für Magris kein<br />

Grund, sich von der Vernunft los zu -<br />

sagen und einem leichtfertigen Nihi lis -<br />

mus zu erliegen. <strong>Die</strong> Revolution bleibt<br />

wahr, „trotz ihrer Missionäre“, auch<br />

dann noch, wenn Menschen wie Cippico<br />

im Fleisch wolf der Weltgeschichte<br />

zermalmt werden. So ist Blindlings vor<br />

allem ein Epos über <strong>die</strong> Unterdrückten<br />

und schon Verschwundenen der Ge -<br />

schichte, wie jene Aborigines, <strong>die</strong> „im<br />

Aus sterben“ groß sind.<br />

<strong>Die</strong> ganze Nachkriegsliteratur Europas<br />

ist von Geschichtspessimismus ge prägt.<br />

Man schrieb nach Auschwitz weiter, um<br />

nicht im Schweigen un terzugehen. Und<br />

auch Magris’ Roman liest sich wie eine<br />

Klage, <strong>die</strong> nichts verklärt –<br />

am wenigsten <strong>die</strong> lügenhafte,<br />

dem Le ben stets<br />

fremde Literatur. Seine<br />

Klage ist aber – und das ist<br />

das Besondere und Angsterregende<br />

an seinem Buch<br />

– zeitlich nicht definiert,<br />

sie be gnügt sich nicht da -<br />

mit, <strong>die</strong> Irr tümer des 20.<br />

Jahrhunderts zu verabso -<br />

lu tieren, je ne allzu be que -<br />

me lite ra rische Übung zu<br />

be treiben, womit man das<br />

Böse von sich weist, indem<br />

man es an zeigt. In Cippicos<br />

Mo nolog ist alles ge -<br />

genwärtig, <strong>die</strong> Zweifel<br />

kommen nicht zur Ru he,<br />

in ihm spuken <strong>die</strong> ver -<br />

gange nen und zu künf ti -<br />

gen Ge schich ten ei ner ge -<br />

schän deten Mensch heit.<br />

Auch der Protagonist<br />

von Grass’ Blechtrommel<br />

war „Insasse einer Heil -<br />

anstalt“ und seine Missbildung<br />

stand für <strong>die</strong><br />

unheilbare Wun de, <strong>die</strong><br />

der Nationalsozialismus<br />

in das deutsche Gewissen<br />

gerissen hatte. Der Lei-<br />

densschrei Cippicos kennt dagegen<br />

keine zeitlich oder räumlichen Grenzen,<br />

von Napoleon bis Tito, von Dachau<br />

nach Tasmanien, reist er durch <strong>die</strong> Weltgeschichte,<br />

um seine Zweifel zu sähen.<br />

Denn der Mensch ist brüchig und zerrt<br />

ebenjenen Schutz schild mit sich in den<br />

Abgrund, der ihn vor dem Untergang<br />

bewahren soll: <strong>die</strong> Idee des Guten, jenes<br />

dünner werdende Holz des Schif fes, das<br />

auch für das christliche Kreuz steht.<br />

Nicht am Guten zweifelt Magris, sondern<br />

am Menschen, der keine Kraft<br />

dafür hat und womöglich, so seine Be -<br />

fürchtung, nicht finden wird. Ist <strong>die</strong><br />

Menschheit vielleicht sogar schon unter -<br />

gegangen und wir lauschen nur noch<br />

dem Bericht eines letzten Versinkenden?<br />

Magris hält <strong>die</strong>se Option offen und<br />

überlässt seinen zehrenden Zweifel dem<br />

stummen Zu hörer, dem Arzt, dem Leser.<br />

Cippico sagt nichts aus, er setzt nur jenes<br />

„Frage zeichen, das alles hinter sich herzieht“,<br />

denn sein Misstrauen in <strong>die</strong><br />

Schrift, in <strong>die</strong> Geschichtsschreibung<br />

und Literatur ist groß. Zuletzt hofft er,<br />

daß seine Geschichte durch einen Speicherfehler<br />

für immer verloren geht –<br />

damit man sich durch ihre Aufzeichnung<br />

nicht si cher wähnt vor all den

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