die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette
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76<br />
Ein zorniges Rütteln reißt mich aus dem Schlaf.<br />
Verstört schrecke ich hoch, um mich gleich wieder in<br />
meinen zerbeulten Sitz fallen zu lassen. Im <strong>ersten</strong><br />
Moment meines Erwachens weiß ich weder, wo ich<br />
bin noch warum ich mich in <strong>die</strong>sem alten, baufälligen<br />
Bus befinde. Ein penetranter Geruch streift<br />
meine Nase und verursacht in mir eine leicht irritierende<br />
Übelkeit. Das ist wirklich typisch für <strong>die</strong>se<br />
russischen Leute: Knurrt erst einmal der Magen,<br />
packen sie auch schon ihr mit Knoblauch durchsetztes<br />
Proviant aus oder aber <strong>die</strong> legendären, vom Öl<br />
triefenden Piroggen, gefüllt mit Kraut oder Kartoffeln.<br />
<strong>Die</strong> ganz Hartgesottenen bringen sich <strong>die</strong><br />
Nationalsuppe Borschtsch mit, der einem Wackelpudding<br />
ähnlich bei jeder Kurve mal nach links, mal<br />
nach rechts überzuschwappen droht.<br />
Ich versuche, ruhig zu bleiben und drücke mich<br />
noch tiefer in meinen Sitz. Einen Schal um meinen<br />
Mund gehüllt, atme ich so flach wie möglich, um ja<br />
nicht das Duftkonglomerat in mich aufzunehmen,<br />
das im Bus sein Unwesen treibt. Verschiedene Gerüche<br />
von extravaganten Speisen vermischen sich mit<br />
dem Duft nach kaltem Schweiß, der <strong>die</strong> Reisenden<br />
wie eine zweite Haut umgarnt. Ein jeder muss sich<br />
hier zusammenreißen. Wie Teile einer großen<br />
menschlichen Symbiose kauern wir Schulter an<br />
Schulter auf unseren durchgesessenen Sitzpolstern<br />
und schlagen uns <strong>die</strong> Zeit tot. Während in den hinteren<br />
Sitzreihen russische Popmusik aus einem billigen<br />
Discman ertönt, kämpft sich <strong>die</strong> ältere Dame<br />
neben mir durch Marx’ Kommunistisches Manifest.<br />
Tief über das Buch gebeugt, hüpfen ihre durch eine<br />
Hornbrille blickenden Augen von Zeile zu Zeile.<br />
Dabei liest sie so andächtig, als ob sie eine Bibel vor<br />
sich hätte. <strong>Die</strong> Frau ist so mit dem Buch verwoben,<br />
dass ich sie einfach stören muss.<br />
„Entschuldigen Sie“, frage ich provozierend.<br />
„Warum lesen Sie Marx? Er ist doch längst tot.“<br />
„Junge Dame. Ich muss doch bitten. <strong>Die</strong>ser große<br />
Mann“, sagt sie, „hat unser Land ans Para<strong>die</strong>s herangeführt.<br />
Wenn er nicht wäre, wärst du nicht.“<br />
„Das versteh ich nicht. Dass jemand durch ein so<br />
dünnes Buch unser großes Land ans Para<strong>die</strong>s führen<br />
kann? Das versteh ich nicht“, spiele ich ihr meine<br />
kindliche Dummheit vor.<br />
„Kleines, unwissendes Mädchen“, beginnt fast<br />
schon majestätisch <strong>die</strong> alte Dame vom Lande. „Karl<br />
Marx ist mit Lenin der größte Mensch, den <strong>die</strong> Welt<br />
gesehen hat. Viele reden doch nur über Gerechtigkeit“,<br />
beginnt sie ihren längeren Monolog. „Viele<br />
Skizzen<br />
Fremde Heimat<br />
Von Viktoria Baron<br />
reden, aber keiner tut sie. Und keiner versteht sie.<br />
Gerechtigkeit ist doch dann, wenn alle Menschen<br />
das Gleiche haben, das Gleiche sind. Das ist doch<br />
gerecht. In den Ländern des Kapitalismus, da wo wir<br />
gerade mit dir hinfahren, da ist es ganz anders. Alle<br />
reden von Freiheit. Alle sind dort in ihrer Freiheit<br />
gefangen. Doch was nützt uns <strong>die</strong> Freiheit, wenn sie<br />
Ungleichheit bedeutet? Was nützt uns <strong>die</strong> Freiheit,<br />
wenn es Millionäre gibt, <strong>die</strong> respektlos an Hausierern<br />
vorbeischlendern? Wenn es Milliardäre gibt, <strong>die</strong><br />
Hunderte Häuser besitzen und Hunderte Obdachlose<br />
mit einem höhnischen Blick vor ihren goldenen<br />
Toren beäugen. Ich frage dich, ist das gerecht? Nein,<br />
kleines Mädchen. Gerechtigkeit ist dort, wo <strong>die</strong><br />
Menschen das Gleiche haben. <strong>Die</strong> Gerechtigkeit ist<br />
dort, wo Menschen das Gleiche sind.“ „Aber liebe<br />
Frau“, versuche ich zu entgegnen. Aber sie ergreift<br />
wieder das Wort, ohne mir auch nur den Hauch<br />
einer Chance zu lassen. „Mädchen! In dem Land, in<br />
welches du fährst, wird es dir gut gehen, weil das<br />
Land reich ist. Deutschland wird dich mit Bananen,<br />
Kiwis und sonstigem nähren und dein Bauch wird<br />
voll sein. Voll Essen. Voll Glück. Und du wirst es vergessen.<br />
Du wirst vergessen, was ich dir gesagt habe.<br />
Du wirst denken, Deutschland, Europa ist schön.<br />
Du wirst <strong>die</strong> Gerechtigkeit vergessen. Denn du wirst<br />
in Ungleichheit, im falschen Para<strong>die</strong>s sein. Falsche<br />
Engel werden dich anlächeln. An das Falsche wirst<br />
du glauben. Ich aber lass mich vom Reichtum des<br />
Westens nicht blenden. Denn ich weiß, irgendwann<br />
wird das Proletariat noch einmal aufstehen. Sich vereinigen<br />
und <strong>die</strong> Gerechtigkeit in unserem Land und<br />
auf der ganzen Welt wiederherstellen.“ Der Monolog<br />
endet hier nicht. Es kommen noch viele<br />
Geschichten über Marx, Engels und natürlich<br />
Lenin, dem Retter unserer Nation. Ich weiß gar<br />
nicht, wie lange <strong>die</strong>se Dame geredet hat. Auf jeden<br />
Fall lange genug, dass wir plötzlich an der ukrainisch-polnischen<br />
Grenze angekommen sind.<br />
Auf einmal steht der Busfahrer auf und beginnt <strong>die</strong><br />
Ansprache, <strong>die</strong> ich mein ganzes Leben lang nicht<br />
vergessen werde. „Also, liebe Reisende. Jetzt sind wir<br />
an der Grenze. Und wie <strong>die</strong> Grenze zwei Seiten hat,<br />
so habt ihr jetzt zwei Möglichkeiten. Wollt ihr wie<br />
Tiere behandelt werden oder als Menschen durchfahren?“<br />
Was sollte das bedeuten? Im ganzen Bus<br />
wird es laut. Alle scheinen darüber zu diskutieren, als<br />
was sie durchfahren wollen. Es war absurd. Ein wohl<br />
noch nie über <strong>die</strong> Grenze Gereister schreit in den Bus<br />
hinein: „Was heißt das? Als Tiere oder als Menschen?“<br />
Der Bus bebt vor Lachen. Eine noch dümmere Frage