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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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kann sich hier niemand mehr vorstellen. Der<br />

Busfah rer – sogar er muss lachen – fasst sich dann<br />

wieder und sagt: „An der Grenze sind <strong>die</strong> Re geln ganz<br />

einfach. Derjenige, der zahlt, ist derjenige, der durchfährt.<br />

Derjenige, der nicht zahlt, ist der Dum me, das<br />

Tier. Konkret: Wir werden durchgefilzt bis zu den<br />

Unterhosen. Unsere Taschen werden aufgemacht.<br />

Auf lange, weiße Tische wird der Inhalt der Taschen<br />

gekippt und <strong>die</strong> Grenzwärter werden, wohl wissend,<br />

dass in den Taschen nichts ist, jede Ja cken ta sche<br />

durchstöbern, jedes Schächtelchen aufmachen und<br />

dann <strong>die</strong> entsetzten Blicke der Reisenden genießen.“<br />

Nach <strong>die</strong>ser Ansprache grölen wir alle los. Viele pa -<br />

cken eifrig nach ihren Portemonnaies, um <strong>die</strong> Euro-<br />

Scheine herauszuholen und zu signalisieren, dass sie<br />

<strong>die</strong> Grenze wie Menschen passieren wollen. Auch<br />

ich bin bereit zu zahlen. Doch wie das immer so ist,<br />

gibt es auch Ausnahmen, <strong>die</strong> sich vehement dagegen<br />

sträuben, auch nur einen Cent an <strong>die</strong> Grenzwärter<br />

zu zahlen. Natürlich versuchen wir, sie zu überzeugen.<br />

Ihnen klarzumachen, dass wenn sie nicht bereit<br />

sind zu zahlen, es bis zu sechs Stunden dauern kann,<br />

bis wir weiterfahren können. Ein Glück, dass alles<br />

glatt läuft. Schon nach fünfzehn Minuten passiert<br />

unser Bus <strong>die</strong> Grenze. Wir heilfroh, dass es so schnell<br />

ging. <strong>Die</strong> Grenzwächter überglücklich, das Klingeln<br />

der Münzen vernommen zu haben. Damit ist <strong>die</strong><br />

nächste Flasche Wodka schon mal sicher.<br />

Da es mir nicht gelingen will, <strong>die</strong> Zeit schneller verstreichen<br />

zu lassen, beobachte ich meine Umgebung<br />

und sauge jedes kleine Geräusch auf. Unaufhörlich<br />

brummt der Motor wie ein kleines Sägewerk und<br />

gibt ab und zu kleine Seufzer von sich, <strong>die</strong> in der weiten<br />

Ferne verhallen. Der Uhr nach zu urteilen,<br />

haben wir mittlerweile 55 Stunden Fahrt hinter uns.<br />

An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken, da der Bus<br />

ein Schlagloch nach dem anderen passiert und von<br />

einer Kurve in <strong>die</strong> nächste prescht. Das alles wäre ja<br />

gar nicht so schlimm, wenn nachts <strong>die</strong> Heizung und<br />

tagsüber <strong>die</strong> Klimaanlage funktionieren würde.<br />

Doch das Besondere an russischen Bussen ist, dass es<br />

oftmals genau umgekehrt funktioniert. An heißen<br />

Nachmittagen wird <strong>die</strong> erbarmungslose Sonne durch<br />

<strong>die</strong> Heizung unterstützt. In den Nächten, in denen<br />

wir in Decken gehüllt vor Kälte zittern, streift uns<br />

dann der kühle Hauch der Klimaanlage. Es ist, als ob<br />

man tagsüber in Bächen zerfließt, um nachts wieder<br />

zu einem riesigen Eisklumpen zu gefrieren.<br />

Unvermittelt schaue ich nach draußen. Das Einzige,<br />

was sich meinen Augen bietet, ist der Anblick<br />

ei ner rußschwarzen Nacht. Sie ist durchtränkt von<br />

schwe ren Wassertropfen, <strong>die</strong> Perlen gleich den<br />

Boden bedecken und ihn zum Schimmern bringen.<br />

Es könn ten meine Tränen sein, <strong>die</strong> sich dort klagend<br />

ergießen. Denn so stark und mutig wie ich tue bin<br />

ich gar nicht. Panik überfällt mich. Eine Panik, <strong>die</strong><br />

sich wie eine Ge pardin auf leisen Sohlen anschleicht,<br />

um ihr Opfer dann blitzartig am Hals zu packen und<br />

zu würgen. Im Moment bin ich das hilflose Opfer.<br />

Allein auf dem Weg in ein unbekanntes Land, in<br />

eine mir fremde Zukunft.<br />

Vor genau achtzehn Jahren wurde ich, Sofia, in<br />

Kasachstan geboren. Schon früh wurde mir <strong>die</strong> russische<br />

Mentalität tagtäglich injiziert, um ja nicht<br />

meine Wurzeln zu vergessen. Zu früh erfuhr ich, was<br />

es heißt, <strong>die</strong> strenge russische Erziehung zu genießen.<br />

Nicht, dass ich eine grauenhafte Kindheit verlebt<br />

hätte oder mich draußen auf dem Hof hätte<br />

abplagen müssen. Nein, meine Kindheit hätte<br />

eigentlich besser nicht sein können. Dennoch gab es<br />

Situationen, <strong>die</strong> eben mit ein paar Schlägen auf den<br />

Po, anstatt mit harten Worten, gelöst wurden. So<br />

zum Beispiel als ich eines Winterabends zu spät nach<br />

Hause kam und zudem den Einkauf nicht erledigt<br />

hatte. Obwohl ich mich herausreden wollte und vorgab,<br />

<strong>die</strong> Zeit und den Einkauf vergessen zu haben,<br />

regnete es prompt ein paar Hiebe auf den Po. Doch<br />

ich muss zugeben, dass meine Eltern in Sachen<br />

Be strafung noch sehr gutherzig zu mir waren. In<br />

unserem Dorf sind auch ganz andere Methoden in<br />

Umlauf. <strong>Die</strong> Klassiker: der Gürtel oder das Verweilen<br />

in der Ecke. Sollte es einen mal richtig übel erwischen,<br />

so wird Salz in eine Ecke gestreut, worauf das<br />

Kind sich mit blanken Knien nieder stützen muss.<br />

Ob man <strong>die</strong>se Erziehungsmethoden nun für richtig<br />

hält oder nicht, effektiv sind sie auf jeden Fall. Nur<br />

selten wagt man es dann wieder, sich gegen seine<br />

Eltern etwas zuschuldenkommen zu lassen.<br />

Obwohl ich in einem Land geboren wurde, das<br />

durch und durch russisch ist, bin ich dennoch keine<br />

Russin. Denn Hunderte Jahre zuvor wurden meine<br />

Vorfahren aus ihrer Heimat Deutschland vertrieben<br />

und dem harten Leben in Kasachstan ausgesetzt. Sie<br />

besaßen kein Quartier. Waren der Bewirtschaftung<br />

der Felder nicht mächtig. Und sie hatten keine<br />

Ahnung, wie sie mit den eisigen Temperaturen im<br />

Winter und der stechenden Hitze im Sommer<br />

zurechtkommen sollten. Ein jeder von ihnen war ein<br />

aus Porzellan gefertigter Krug, der von außen fest<br />

und solide war. Doch sobald man hineinschaute, sah<br />

man <strong>die</strong> ansteigende Hoffnungslosigkeit, <strong>die</strong> das<br />

Gefäß bald würde nicht mehr fassen können. Vielleicht<br />

ist das auch der wahre Grund, warum ich<br />

gerade in <strong>die</strong>sem zerbeulten und so typisch sowjetischen<br />

Bus sitze und mich auf dem Weg nach<br />

Deutschland befinde. Einem Land, das womöglich<br />

meine wahre Heimat ist. Doch was bedeutet Heimat?<br />

Und dann noch wahre Heimat? Ist es der Ort,<br />

wo man geboren wurde? Der Platz, wo <strong>die</strong> eigene<br />

Familie ist? Oder der Fleck, wo man sich wohl fühlt?<br />

Mittlerweile bin ich eine erwachsene Frau. Zumindest<br />

denke ich das. Wer traut sich denn schon hier<br />

aus meinem Dorf ganz alleine, ohne Familie, in ein<br />

fremdes Land aufzubrechen,<br />

um womöglich nie wiederzukehren? Alle hier haben<br />

sie Angst, den Schritt ins Ungewisse zu wagen. Es<br />

gibt nur wenige Mutige, <strong>die</strong> ihr Hab und Gut<br />

packen und ihrer Heimat den Rücken kehren. <strong>Die</strong><br />

meisten von ihnen werden weiterhin das gepflegte<br />

Dorfleben führen, so wie unsere Nachbarn Petrowitsch.<br />

Sie ist Buchhalterin, <strong>die</strong> tagtäglich <strong>die</strong> Stra-<br />

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