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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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ten hinterlassen hatte. Und mit dem Geld bezahlten<br />

sie <strong>die</strong> falufärg für den Hof und kauften ein<br />

schönes altes Stück für <strong>die</strong> Einrichtung.<br />

Auch das ist Neuengland, schwierige Heimat.<br />

Von seiner Scholle allein lebt hier niemand mehr.<br />

Dann und wann triffst du in den weithin verstreuten<br />

und sich unermesslich ausdehnenden<br />

Dörfern, <strong>die</strong> hier ohne Unterschied ihrer Größe<br />

township heißen, am vermeintlichen Mittelpunkt<br />

kaum mehr als ein Town House und einen General<br />

Store mit Postamt; vielleicht gerade noch <strong>die</strong> Schu -<br />

le. Weitab davon und seltsamerweise meist ohne<br />

Kapelle oder Kirche der Friedhof. Viel zu groß und<br />

viel zu einsam, so scheint es, für derart wenige Einwohner.<br />

Jetzt, vor Weihnachten, stehen da vor<br />

manchen Grabsteinen neu aufgerichtete kleine<br />

Sternenbanner, und wenn der Wanderer <strong>die</strong> In -<br />

schrift liest, dann sieht er, der Grabstein über dem<br />

Sternenbanner ist hundertvierzig Jahre alt und<br />

erinnert mit schlankem, lakonischem Spruch an<br />

jemand aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg,<br />

gestorben im 24. Jahr seines Lebens. Officer and<br />

gentleman. Mehr nicht, nur das. Trauer ist hier, so<br />

scheint es, ebenso zurückhaltend wie das Land<br />

ringsum selbst, das ihm Heimat war, und der Tod<br />

in dem jungen Land da noch viel unverständlicher.<br />

Hoch oben über den Flusstälern, auf den Terrassen<br />

der Waldgebirge, trifft der Wanderer immer<br />

wieder völlig unerwartet auf Lichtungen. Seltsam<br />

ausgewachsene, verwilderte Obstbäume stehen auf<br />

dem verbuschten, verkrauteten Feld, und wer<br />

genauer hinsieht, erkennt vielleicht im hohen Gras<br />

granitene Fundamente einstiger Häuser. Das kann<br />

einem auf einer Höhe von acht- oder neunhundert<br />

Metern über dem Meeresspiegel begegnen. Dem<br />

entspräche in den Alpen dem Klima nach ein Dorf<br />

in doppelter Höhe, knapp unter zweitausend<br />

Meter, wo es kaum noch Einzelhöfe gibt. Eine<br />

kleine Umfrage bestätigt, ja, das alles war einmal<br />

besiedelt, mit kleinen Höfen, <strong>die</strong> sich alles selbst<br />

erzeugten, und unten im Tale hatten sie Mühlen,<br />

an den Hängen ihre Granitbrüche, deren Reste du<br />

heute noch sehen kannst. Von dem Granit übrigens<br />

wurden <strong>die</strong> Paläste und Hochhäuser New<br />

Yorks und Bostons verkleidet und <strong>die</strong> Straßen<br />

gepflastert, ehe der Beton seinen Siegeszug antrat.<br />

Als der Westen geöffnet wurde, <strong>die</strong> Weite über <strong>die</strong><br />

Appalachen zum Mississippi hin, da leerte sich <strong>die</strong>ses<br />

karge Land binnen einer Generation. <strong>Die</strong> Siedler,<br />

<strong>die</strong> in den amerikanischen Westen hinauszogen,<br />

waren nicht, wie du als Leser deutscher<br />

Jugendbücher von 1880 vielleicht annimmst,<br />

frisch angekommene Einwanderer aus Europa.<br />

Das waren zuallererst <strong>die</strong> zähen Bauern von hier,<br />

<strong>die</strong> unter König Georg I., dem Deutschen, aus<br />

Wales ausgewandert waren oder aus Schottland.<br />

Der Wald, den du hier siehst, <strong>die</strong>ses schier unendliche<br />

Gewoge von Nadelbäumen, von zuckertragendem<br />

Ahorn, Hochlandbuchen, Wassererle und<br />

Felsenbirne und dem <strong>die</strong> arktische Kälte ankündigenden<br />

Birkenbestand, der Wald mit dem grünen<br />

Schmelz drüber und der grauen Seitenansicht, all<br />

<strong>die</strong>ses Urweltliche, Urwaldähnliche, besteht erst<br />

wieder seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dann<br />

nämlich waren <strong>die</strong> verlassenen Hofstätten der <strong>ersten</strong><br />

weißen Siedler endlich vollständig aufgegeben<br />

und hatte sich den wenigen daheim Gebliebenen<br />

<strong>die</strong> weitere Bewirtschaftung als endgültig sinnlos<br />

erwiesen.<br />

Der Wald hat sich <strong>die</strong>ses nördliche Neuengland<br />

zurückerobert, von Norden nach Süden. Land in<br />

den grünen Bergen, Vermont, ist mehr als nur der<br />

Name eines Bundesstaates, ist es heute vielleicht so<br />

sehr wie einst nur in der Zeit seiner Gründung.<br />

Einsamer ist und einsamer wirkt <strong>die</strong>ses verlassene<br />

Land, als es jede Landschaft wäre, <strong>die</strong> unbesorgt<br />

fröhlich einen geraden und dem Volksglauben<br />

nach zukunftsverheißenden Gang der Geschichte<br />

hinter sich hat, wie wir das von fast überall sonst<br />

kennen.<br />

Durch den schütteren Novemberschnee führen<br />

kaum erkennbare, mit wenigen blassgelben und<br />

braunen Naturfarben-Markierungen ökologisch<br />

sehr korrekt bezeichnete Wanderwege durch <strong>die</strong><br />

grauen, entblätterten Laubwälder, in <strong>die</strong> Höhen<br />

des Mount Cardigan oder des Mount Moosilaukee,<br />

eine Tour, <strong>die</strong> an <strong>die</strong>sen kurzen Dezembertagen<br />

morgens rechtzeitig begonnen werden sollte.<br />

Wer auf dem Gipfel steht, in der Mitte <strong>die</strong>ser schier<br />

unzerstörbaren Zelle hohen Luftdrucks, sieht ferne<br />

draußen <strong>die</strong> Wolkenbänke rauchen und sich langsam<br />

verschieben, nach unten, in <strong>die</strong> tieferen Luftschichten<br />

wie abgeschnitten. Der Blick reicht in<br />

<strong>die</strong> Ebene hinunter zum Atlantischen Ozean und<br />

auch weit hinein ins Inland, über Hügel und Hügel<br />

und nicht endenwollende Bergketten. <strong>Die</strong> Täler zu<br />

Füßen öffnen sich, das eine oder andere schwarze<br />

Auge von Gebirgssee blinkt, spiegelblank gefroren<br />

in den schneearmen, eisigen Wochen.<br />

Wer hier länger Umschau gehalten und seinen<br />

Pulsschlag endlich beruhigt hat, dem erklingt nun<br />

in <strong>die</strong>se Ruhe hinein ein Ton aus <strong>die</strong>ser Natur, ein<br />

Klang wie ein Orgelpunkt, Einbildung vielleicht<br />

und dennoch präsent vor den Sinnen wie <strong>die</strong> Sphärenmusik<br />

der Alten. Es ist der Klang <strong>die</strong>ser Landschaft.<br />

Da und dort in der Ferne dann doch eine<br />

Lichterpyramide, der geschmückte Baum vor einer<br />

Farm mitten in den Wäldern. Auch wenn unten <strong>die</strong><br />

Straße den Fluss entlang zieht und Fernlaster<br />

geräuschlos ihren Weg nehmen, auch wenn den<br />

Himmel Kondensstreifen zerfurchen, hier oben ist<br />

es, als wäre das Land noch nicht entdeckt und<br />

würde gerade jetzt darauf warten, endlich entdeckt<br />

zu werden. Oder aber: endlich wieder allein zu<br />

sein. Der Mensch ist hier immer nur ein Eindringling.<br />

Seine Spur verwischt sich jedes Mal, und jedes<br />

Mal erscheint alles wieder wie unbetreten.<br />

Im Hinuntergehen weht von irgendwoher ein<br />

Fetzen Musik, den der Wind heraufträgt, mehrstimmig<br />

gesungen, a capella, bestimmt eine Platte,<br />

was denn sonst? Aber es ist <strong>die</strong> Färbung von<br />

Gefühl, <strong>die</strong> hier Weihnachtslieder trägt, <strong>die</strong>se<br />

Mischung von Studentenrenaissance und etwas<br />

Händel, frisch und unsentimental vorgetragen wie

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