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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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78<br />

pazen der Marschrutkafahrt auf sich nimmt, um in<br />

<strong>die</strong> Stadt zu kommen. Er Sportlehrer in der Dorfschule,<br />

dem Lyzeum Nr. 30. Schon lange ist es so,<br />

dass viele <strong>die</strong> Dorfgrenze überschreiten und in <strong>die</strong><br />

nächstgelegene Stadt Zelinograd fahren. Entweder<br />

weil sie dort arbeiten oder aber gewisse Einkäufe<br />

erledigen müssen. Dennoch spielt sich das Hauptgeschehen<br />

für <strong>die</strong>se Leute hier im kleinen Dorf Thälman<br />

ab. Viele haben ein eigenes Haus, das sie selber<br />

gebaut haben. Alle besitzen einen Stall mit einer<br />

Kuh, mit vielen Hühnern und Hennen und den<br />

dazugehörenden Küken. Für russische Verhältnisse<br />

sind <strong>die</strong> Dorfleute wohlhabend. Und vor allem sehr<br />

selbstständig. Man hat seine eigene Milch, aus dem<br />

Käse und Rahm hergestellt wird. Man hat seine eigenen<br />

Eier, <strong>die</strong> von den fleißigen Hennen gelegt werden.<br />

Und man backt sein eigenes Brot, welches das<br />

im Geschäft bei weitem übertrifft.<br />

Als ich noch klein war, habe ich meiner Mutter oft<br />

beim Melken zugeschaut. Ich sehe sie jetzt noch.<br />

Wie sie da im schlecht beleuchteten Schuppen sitzt.<br />

Auf einem kleinen Holzhocker und ständig versucht,<br />

dem peitschenden Schwanz der Kuh auszuweichen,<br />

der abwechselnd mal nach links, dann<br />

nach rechts schwingt. Stets trägt sie ein abgetragenes,<br />

rötliches Kopftuch, eine mit blauen Punkten<br />

durchsetzte Schürze und schwarze, abgenutzte<br />

Gummistiefel. Nie beklagt sie sich über ihre Arbeit.<br />

Das breite Lächeln, mit dem sie alles erledigt, klebt<br />

ihr stets wie eine Briefmarke im Gesicht.<br />

Obwohl ich zu meinem Land eine tiefe Verbundenheit<br />

spüre, bin ich dennoch in der Lage, meine<br />

Landsleute zu kritisieren. Deswegen auch meine<br />

Flucht aus <strong>die</strong>sem liebenswürdigen, aber dennoch so<br />

tristen und hoffnungslosen Leben. An jeder Ecke<br />

schreit <strong>die</strong> Perspektivlosigkeit mir geradezu ins<br />

Angesicht, um dann anschließend ihren Hohn über<br />

mich zu ergießen. Überall liegen <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit,<br />

der Alkoholismus und <strong>die</strong> Korruption auf der<br />

Straße. Man muss sich nur noch bücken, um mit ihr<br />

zu verwachsen. Zwar habe ich einen Schulabschluss.<br />

Könnte hier auch durchaus ein Studium beginnen.<br />

Doch soll ich mein ganzes Leben in <strong>die</strong>ser Einöde<br />

verbringen? In meinem ganzen Leben nur Thälman<br />

und Zelinograd gesehen haben? Um mich irgendwann,<br />

alt und verschrumpelt, zu fragen, was ich in<br />

meinem Leben erreicht habe?<br />

Plumps. Ein scharfes Bremsen lässt den Bus tanzen<br />

und meinen Kopf gegen den Vordersitz knallen.<br />

Ganz benommen schaue ich auf. Im Bus herrscht<br />

rege Betriebsamkeit. <strong>Die</strong> Reisenden kramen ihre<br />

Taschen hervor. Ein Gedränge entsteht, weil jeder<br />

zuerst den Bus verlassen will. Wir sind da. In<br />

Deutschland, <strong>die</strong>sem Land aller Träume. Es fällt mir<br />

schwer, aufzustehen, da mein ganzer Körper von der<br />

Fahrt so steif ist, dass mir alles weh tut. Ich bin <strong>die</strong><br />

Letzte, <strong>die</strong> den Bus verlässt. Mit Gepäck überladen,<br />

strauchle ich <strong>die</strong> Bustreppe hinunter und erblicke in<br />

der Menge meine Tante. Mit einem strahlenden<br />

Gesicht kommt sie mir entgegen. Sie drückt mich,<br />

küsst mich und heißt mich herzlich willkommen in<br />

der Metropole Deutschlands: München.<br />

Nach dutzenden Küssen und Umarmungen fragt<br />

sie mich endlich, ob ich denn gut angekommen bin.<br />

Was soll ich ihr sagen? Soll ich ihr was sagen? Dass<br />

ich gelernt habe, Gerechtigkeit als Gleichheit zu verstehen;<br />

dass ich nicht „wie ein Tier“, sondern als<br />

Mensch <strong>die</strong> ukrainisch-polnische Grenze passiert<br />

habe, dass Lenin… Nein, dass alles konnte ich meiner<br />

Tante einfach nicht erzählen. Ich wollte es nicht.<br />

Sie würde mich ja eh nicht verstehen. Dafür lebt sie<br />

schon zu lange hier in Deutschland. Nein: ab jetzt<br />

beschließe ich, dass ich in einer neuen Stadt, in<br />

einem neuen Land eine neue Sofia bin. <strong>Die</strong> alte Sofia<br />

habe ich hinter der Grenze gelassen. Einfach so. Ab<br />

jetzt bin ich Europäerin. Basta.<br />

Also sage ich meiner Tante, dass <strong>die</strong> Fahrt gut gewesen<br />

ist. Dass wir eine tolle Klimaanlage im Bus hatten.<br />

Und das wir an der Grenze gar nicht aufgehalten<br />

wurden. Indem ich all <strong>die</strong> Strapazen einfach weglasse,<br />

fühle ich mich viel besser. So muss sich wohl<br />

auch meine Tante hier fühlen: keine ausgefallenen<br />

Klimaanlagen, kein Essensgestank, keine „Mensch<br />

oder Tier“-Fragereien. Ab jetzt wollte ich so sein wie<br />

sie, so denken wie sie. Und es sollte mir gelingen.<br />

Das Ganze mit Deutschland – dort leben, dort<br />

vielleicht arbeiten oder stu<strong>die</strong>ren, war ja zuerst alles<br />

nur ein pures Hirngespinst: Eines Tages rief meine<br />

Tante an, <strong>die</strong> mittlerweile schon seit 13 Jahren in<br />

Deutschland lebt. Sie fragte mich, was ich nach der<br />

Schule mit meinem Leben anfangen wolle. Ob ich<br />

konkrete Zukunftspläne hätte? Und natürlich hatte<br />

ich sie zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt noch nicht. Ich befand<br />

mich damals mitten in meiner Schullaufbahn und<br />

vermied es, mir Gedanken um mein späteres Leben<br />

zu machen. Ich hatte ganz einfach Angst davor.<br />

Wollte das alles so weit wie möglich von mir herschieben<br />

und meine Zukunft erst dann planen,<br />

wenn es wirklich sein musste. Doch meine Tante war<br />

sehr hartnäckig. Sie wollte mich unbedingt von <strong>die</strong>sem<br />

Dorfleben befreit wissen. Sie meinte immer,<br />

dass ich Potential hätte. Dass aus mir was werden<br />

könnte. Und dass es in Deutschland sehr gute Universitäten<br />

gebe.<br />

Damals konnte ich über ihren Vorschlag nur la -<br />

chen. Wie konnte mir meine Tante nur solch einen<br />

ab surden Vorschlag machen, wo sie doch genau<br />

weiß, wie sehr ich an meinem Zuhause hänge und<br />

unter welch krankhaften Heinwehattacken ich leide.<br />

Selbst ein Schulausflug für ein paar Tage war mir<br />

derart verhasst, dass ich jedes Mal abgemagert nach<br />

Hau se kam, weil ich vor lauter Heimweh nichts es -<br />

sen konnte. Nächtelang dachte ich über ihren Vorschlag<br />

nach, zu ihr nach Deutschland zu kommen.<br />

Dort zu stu<strong>die</strong>ren. Und so vernünftig ihre Idee auch<br />

war, sträubte sich dennoch alles in meinem Inneren<br />

gegen <strong>die</strong>sen Schritt. Er war mir einfach zu groß.

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