die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette
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pazen der Marschrutkafahrt auf sich nimmt, um in<br />
<strong>die</strong> Stadt zu kommen. Er Sportlehrer in der Dorfschule,<br />
dem Lyzeum Nr. 30. Schon lange ist es so,<br />
dass viele <strong>die</strong> Dorfgrenze überschreiten und in <strong>die</strong><br />
nächstgelegene Stadt Zelinograd fahren. Entweder<br />
weil sie dort arbeiten oder aber gewisse Einkäufe<br />
erledigen müssen. Dennoch spielt sich das Hauptgeschehen<br />
für <strong>die</strong>se Leute hier im kleinen Dorf Thälman<br />
ab. Viele haben ein eigenes Haus, das sie selber<br />
gebaut haben. Alle besitzen einen Stall mit einer<br />
Kuh, mit vielen Hühnern und Hennen und den<br />
dazugehörenden Küken. Für russische Verhältnisse<br />
sind <strong>die</strong> Dorfleute wohlhabend. Und vor allem sehr<br />
selbstständig. Man hat seine eigene Milch, aus dem<br />
Käse und Rahm hergestellt wird. Man hat seine eigenen<br />
Eier, <strong>die</strong> von den fleißigen Hennen gelegt werden.<br />
Und man backt sein eigenes Brot, welches das<br />
im Geschäft bei weitem übertrifft.<br />
Als ich noch klein war, habe ich meiner Mutter oft<br />
beim Melken zugeschaut. Ich sehe sie jetzt noch.<br />
Wie sie da im schlecht beleuchteten Schuppen sitzt.<br />
Auf einem kleinen Holzhocker und ständig versucht,<br />
dem peitschenden Schwanz der Kuh auszuweichen,<br />
der abwechselnd mal nach links, dann<br />
nach rechts schwingt. Stets trägt sie ein abgetragenes,<br />
rötliches Kopftuch, eine mit blauen Punkten<br />
durchsetzte Schürze und schwarze, abgenutzte<br />
Gummistiefel. Nie beklagt sie sich über ihre Arbeit.<br />
Das breite Lächeln, mit dem sie alles erledigt, klebt<br />
ihr stets wie eine Briefmarke im Gesicht.<br />
Obwohl ich zu meinem Land eine tiefe Verbundenheit<br />
spüre, bin ich dennoch in der Lage, meine<br />
Landsleute zu kritisieren. Deswegen auch meine<br />
Flucht aus <strong>die</strong>sem liebenswürdigen, aber dennoch so<br />
tristen und hoffnungslosen Leben. An jeder Ecke<br />
schreit <strong>die</strong> Perspektivlosigkeit mir geradezu ins<br />
Angesicht, um dann anschließend ihren Hohn über<br />
mich zu ergießen. Überall liegen <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit,<br />
der Alkoholismus und <strong>die</strong> Korruption auf der<br />
Straße. Man muss sich nur noch bücken, um mit ihr<br />
zu verwachsen. Zwar habe ich einen Schulabschluss.<br />
Könnte hier auch durchaus ein Studium beginnen.<br />
Doch soll ich mein ganzes Leben in <strong>die</strong>ser Einöde<br />
verbringen? In meinem ganzen Leben nur Thälman<br />
und Zelinograd gesehen haben? Um mich irgendwann,<br />
alt und verschrumpelt, zu fragen, was ich in<br />
meinem Leben erreicht habe?<br />
Plumps. Ein scharfes Bremsen lässt den Bus tanzen<br />
und meinen Kopf gegen den Vordersitz knallen.<br />
Ganz benommen schaue ich auf. Im Bus herrscht<br />
rege Betriebsamkeit. <strong>Die</strong> Reisenden kramen ihre<br />
Taschen hervor. Ein Gedränge entsteht, weil jeder<br />
zuerst den Bus verlassen will. Wir sind da. In<br />
Deutschland, <strong>die</strong>sem Land aller Träume. Es fällt mir<br />
schwer, aufzustehen, da mein ganzer Körper von der<br />
Fahrt so steif ist, dass mir alles weh tut. Ich bin <strong>die</strong><br />
Letzte, <strong>die</strong> den Bus verlässt. Mit Gepäck überladen,<br />
strauchle ich <strong>die</strong> Bustreppe hinunter und erblicke in<br />
der Menge meine Tante. Mit einem strahlenden<br />
Gesicht kommt sie mir entgegen. Sie drückt mich,<br />
küsst mich und heißt mich herzlich willkommen in<br />
der Metropole Deutschlands: München.<br />
Nach dutzenden Küssen und Umarmungen fragt<br />
sie mich endlich, ob ich denn gut angekommen bin.<br />
Was soll ich ihr sagen? Soll ich ihr was sagen? Dass<br />
ich gelernt habe, Gerechtigkeit als Gleichheit zu verstehen;<br />
dass ich nicht „wie ein Tier“, sondern als<br />
Mensch <strong>die</strong> ukrainisch-polnische Grenze passiert<br />
habe, dass Lenin… Nein, dass alles konnte ich meiner<br />
Tante einfach nicht erzählen. Ich wollte es nicht.<br />
Sie würde mich ja eh nicht verstehen. Dafür lebt sie<br />
schon zu lange hier in Deutschland. Nein: ab jetzt<br />
beschließe ich, dass ich in einer neuen Stadt, in<br />
einem neuen Land eine neue Sofia bin. <strong>Die</strong> alte Sofia<br />
habe ich hinter der Grenze gelassen. Einfach so. Ab<br />
jetzt bin ich Europäerin. Basta.<br />
Also sage ich meiner Tante, dass <strong>die</strong> Fahrt gut gewesen<br />
ist. Dass wir eine tolle Klimaanlage im Bus hatten.<br />
Und das wir an der Grenze gar nicht aufgehalten<br />
wurden. Indem ich all <strong>die</strong> Strapazen einfach weglasse,<br />
fühle ich mich viel besser. So muss sich wohl<br />
auch meine Tante hier fühlen: keine ausgefallenen<br />
Klimaanlagen, kein Essensgestank, keine „Mensch<br />
oder Tier“-Fragereien. Ab jetzt wollte ich so sein wie<br />
sie, so denken wie sie. Und es sollte mir gelingen.<br />
Das Ganze mit Deutschland – dort leben, dort<br />
vielleicht arbeiten oder stu<strong>die</strong>ren, war ja zuerst alles<br />
nur ein pures Hirngespinst: Eines Tages rief meine<br />
Tante an, <strong>die</strong> mittlerweile schon seit 13 Jahren in<br />
Deutschland lebt. Sie fragte mich, was ich nach der<br />
Schule mit meinem Leben anfangen wolle. Ob ich<br />
konkrete Zukunftspläne hätte? Und natürlich hatte<br />
ich sie zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt noch nicht. Ich befand<br />
mich damals mitten in meiner Schullaufbahn und<br />
vermied es, mir Gedanken um mein späteres Leben<br />
zu machen. Ich hatte ganz einfach Angst davor.<br />
Wollte das alles so weit wie möglich von mir herschieben<br />
und meine Zukunft erst dann planen,<br />
wenn es wirklich sein musste. Doch meine Tante war<br />
sehr hartnäckig. Sie wollte mich unbedingt von <strong>die</strong>sem<br />
Dorfleben befreit wissen. Sie meinte immer,<br />
dass ich Potential hätte. Dass aus mir was werden<br />
könnte. Und dass es in Deutschland sehr gute Universitäten<br />
gebe.<br />
Damals konnte ich über ihren Vorschlag nur la -<br />
chen. Wie konnte mir meine Tante nur solch einen<br />
ab surden Vorschlag machen, wo sie doch genau<br />
weiß, wie sehr ich an meinem Zuhause hänge und<br />
unter welch krankhaften Heinwehattacken ich leide.<br />
Selbst ein Schulausflug für ein paar Tage war mir<br />
derart verhasst, dass ich jedes Mal abgemagert nach<br />
Hau se kam, weil ich vor lauter Heimweh nichts es -<br />
sen konnte. Nächtelang dachte ich über ihren Vorschlag<br />
nach, zu ihr nach Deutschland zu kommen.<br />
Dort zu stu<strong>die</strong>ren. Und so vernünftig ihre Idee auch<br />
war, sträubte sich dennoch alles in meinem Inneren<br />
gegen <strong>die</strong>sen Schritt. Er war mir einfach zu groß.