die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette
die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette
die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
54<br />
nie derländische Premier Jan Peter Balkenende hält<br />
<strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde,<br />
Freiheit, Gleichheit und Solidarität für<br />
„bindende universale moralische Werte, <strong>die</strong> in unseren<br />
Verträgen festgehalten werden“. Ähnlich formuliert<br />
es auch <strong>die</strong> Entschließung auf dem Kongress des<br />
Nexus-Instituts 2004, „Realising the Idea of<br />
Europe“: „Europa ist geeint in seiner Viel falt. Einheit<br />
in Vielfalt ist ein historisches und ein moralisches<br />
Prinzip. Es bezieht sich auf <strong>die</strong> universalen<br />
Werte, <strong>die</strong> mehr als zweitausend Jahre lang <strong>die</strong><br />
Grundlagen Europas gelegt haben: Achtung der<br />
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,<br />
<strong>die</strong> Herrschaft des Rechts und <strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte.<br />
Sie sind <strong>die</strong> Grundwerte, <strong>die</strong> eine pluralistische<br />
und tolerante Gesellschaft schützen vor<br />
Absolutismus, Relativismus und Ni hi lismus. <strong>Die</strong>se<br />
Grundwerte sind unantastbar.“<br />
Aber sind „europäische Werte“ lediglich moralische<br />
Werte? Ist <strong>die</strong> Achtung der Menschenwürde<br />
und der Menschenrechte nicht auch ein sozialer<br />
und ein politischer Wert? Sind <strong>die</strong> Menschenrechte<br />
lediglich Grundwerte oder eher Grundrechte?<br />
Sind sie etwas beides gleichzeitig? Ist Freiheit<br />
ein Wert an sich? Oder ist Freiheit womöglich<br />
eine Bedingung, eine konkrete Situation oder,<br />
andererseits, ein Ideal, das wir doch nie vollkommen<br />
verwirklichen? Gibt es wirklich keinen Unterschied<br />
zwischen moralischer, sozialer, politischer,<br />
rechtlicher und persönlicher Freiheit? Was ist<br />
eigentlich gemeint mit der Feststellung, <strong>die</strong>se<br />
„europäischen Werte“ seien universal gültig? Wie<br />
kann man einerseits sagen, <strong>die</strong>se sich verändernden<br />
Werte seien das Ergebnis unserer Geschichte, und<br />
auf der anderen Seite behaupten, sie seien abstrakt<br />
und universal?<br />
Auf all <strong>die</strong>se Fragen und Paradoxa gibt <strong>die</strong> gegenwärtige<br />
Werte-Diskussion keine Antwort.<br />
Darüber hinaus bemerken wir eine Art „missing<br />
link“ zwischen Werten und Normen. Es wird still -<br />
schweigend unterstellt, dass Werte eine moralische<br />
Angelegenheit sind und Normen eine rechtliche.<br />
Dabei wird aber übersehen, dass es nicht nur recht -<br />
liche, sondern auch moralische, politische und kulturelle<br />
Normen gibt. Im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage,<br />
ob Europa eine Wertegemeinschaft oder<br />
eine Rechtsordnung sein soll, muss jedoch festgehalten<br />
werden, dass Werte im Unterschied zu rechtlichen<br />
Normen ein „weicherer“ Begriff sind: sie sind<br />
weniger formal, nicht zwingend, ein Sollen, aber<br />
kein obligatorisches Müssen. <strong>Die</strong>sen Verpflichtungscharakter<br />
nehmen Werte erst an, wenn sie tatsächlich<br />
zu Normen werden.<br />
Mit einem Einwand haben <strong>die</strong> Gegner<br />
einer Wertegemeinschaft Europa völlig recht: Werte<br />
können heute zu einem totalitären Zwang entarten,<br />
wenn sie dazu benützt werden, ungesetzliche Diskriminierung<br />
von Menschen, Gruppen oder Staaten zu<br />
legitimieren, wenn sie sich also an <strong>die</strong> Stelle der<br />
Rechtsordnung setzen.<br />
Wir müssen jedoch einen klaren Trennungsstrich<br />
ziehen zwischen dem wesentlichen Kennzeichen<br />
von Werten (dass sie nämlich gerade nicht au to ri -<br />
tär sind) und den Zwecken, für <strong>die</strong> gebraucht wer -<br />
den (dass sie also durch einem autoritären Machtstreben<br />
<strong>die</strong>nstbar gemacht werden). Werte sind<br />
nicht automatisch <strong>die</strong> Maske eines Willens zur<br />
Macht, wie Spaemann und vor ihm schon Nietzsche<br />
behaupten. In christlichen, aber auch in vielen<br />
fernöstlichen Traditionen finden wir eine ganze<br />
Reihe höherer geistiger Werte, <strong>die</strong> nichts mit dem<br />
Streben nach Macht zu tun haben: Mitgefühl,<br />
Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe, Groß -<br />
zügigkeit. Von Zeit zu Zeit treffen wir sogar auf<br />
Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Werte verwirklichen.<br />
Auch lässt sich <strong>die</strong> Behauptung Michalskis, Werte<br />
lösten immer nur Konflikte aus, nicht aufrechterhalten,<br />
ebensowenig, dass sie unverbindlich und<br />
lediglich identitätsstiftend seien, wie Politiker gern<br />
betonen.<br />
Es kommt immer darauf an herauszufinden,<br />
unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen<br />
Werte zu einem Konflikt führen und wo sie<br />
andererseits Brücken bauen zwischen Menschen,<br />
Gruppen und Nationen.<br />
Eine ernste Gefahr sehe ich in den Verlautbarungen<br />
mancher Politiker, wir müssten „unsere Werte<br />
verteidigen“ gegen ihre „Feinde“, z.B. gegen Extremisten.<br />
Es bleibt gefährlich unklar, was konkret<br />
damit gemeint ist, und wir haben den Eindruck,<br />
<strong>die</strong>se Aufforderung ist nur eine neue Form der Rede<br />
vom Kalten Krieg gegen „unsere Feinde“, vor denen<br />
wir uns zu fürchten hätten.<br />
Eine weitere Gefahr liegt darin, dass <strong>die</strong> so oft<br />
zitierten „europäischen Werte“ als exklusive Er run -<br />
genschaften der europäischen Kultur angesehen<br />
werden (wie es Balkenende, Giscard d’Estaing und<br />
andere gern tun). <strong>Die</strong>se Spielart des Eurozentrismus<br />
vergisst, das <strong>die</strong> Achtung der Menschen und ihrer<br />
Würde, aber auch Freiheit, Toleranz und Solidarität<br />
höchste Werte in einigen der ältesten Kulturen der<br />
Welt sind, etwa in In<strong>die</strong>n oder auch in China.<br />
Wie kann also <strong>die</strong> Europäische Union sich als „Pionier<br />
der Werte“ aufspielen, wenn sie ihren eigenen<br />
Bürgern nicht einmal erklären kann, was Werte<br />
sind?<br />
Ich komme zur Ausgangsfrage zurück: Soll Eu ro pa<br />
eine Wertegemeinschaft oder eine Rechtsordnung<br />
sein?<br />
Mir ist, offen gesagt,überhaupt nicht klar, warum<br />
<strong>die</strong> Frage in <strong>die</strong>ser Form gestellt wird, in <strong>die</strong>ser Entweder-oder-Form.<br />
Warum wird sie nicht als<br />
Sowohl-als-auch-Frage formuliert? Erinnert <strong>die</strong><br />
Frage nicht an <strong>die</strong> alte Streitfrage, was zuerst da war,<br />
<strong>die</strong> Henne oder das Ei?<br />
<strong>Die</strong> Gegner einer Wertemeinschaft nehmen an,<br />
dass ein als Wertegemeinschaft konstituierter Staat<br />
allein dadurch ein totalitärer Staat ist, dass er sich als<br />
einen „Beauftragten höherer Werte“ versteht, einer