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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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nie derländische Premier Jan Peter Balkenende hält<br />

<strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde,<br />

Freiheit, Gleichheit und Solidarität für<br />

„bindende universale moralische Werte, <strong>die</strong> in unseren<br />

Verträgen festgehalten werden“. Ähnlich formuliert<br />

es auch <strong>die</strong> Entschließung auf dem Kongress des<br />

Nexus-Instituts 2004, „Realising the Idea of<br />

Europe“: „Europa ist geeint in seiner Viel falt. Einheit<br />

in Vielfalt ist ein historisches und ein moralisches<br />

Prinzip. Es bezieht sich auf <strong>die</strong> universalen<br />

Werte, <strong>die</strong> mehr als zweitausend Jahre lang <strong>die</strong><br />

Grundlagen Europas gelegt haben: Achtung der<br />

Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,<br />

<strong>die</strong> Herrschaft des Rechts und <strong>die</strong> Achtung der Menschenrechte.<br />

Sie sind <strong>die</strong> Grundwerte, <strong>die</strong> eine pluralistische<br />

und tolerante Gesellschaft schützen vor<br />

Absolutismus, Relativismus und Ni hi lismus. <strong>Die</strong>se<br />

Grundwerte sind unantastbar.“<br />

Aber sind „europäische Werte“ lediglich moralische<br />

Werte? Ist <strong>die</strong> Achtung der Menschenwürde<br />

und der Menschenrechte nicht auch ein sozialer<br />

und ein politischer Wert? Sind <strong>die</strong> Menschenrechte<br />

lediglich Grundwerte oder eher Grundrechte?<br />

Sind sie etwas beides gleichzeitig? Ist Freiheit<br />

ein Wert an sich? Oder ist Freiheit womöglich<br />

eine Bedingung, eine konkrete Situation oder,<br />

andererseits, ein Ideal, das wir doch nie vollkommen<br />

verwirklichen? Gibt es wirklich keinen Unterschied<br />

zwischen moralischer, sozialer, politischer,<br />

rechtlicher und persönlicher Freiheit? Was ist<br />

eigentlich gemeint mit der Feststellung, <strong>die</strong>se<br />

„europäischen Werte“ seien universal gültig? Wie<br />

kann man einerseits sagen, <strong>die</strong>se sich verändernden<br />

Werte seien das Ergebnis unserer Geschichte, und<br />

auf der anderen Seite behaupten, sie seien abstrakt<br />

und universal?<br />

Auf all <strong>die</strong>se Fragen und Paradoxa gibt <strong>die</strong> gegenwärtige<br />

Werte-Diskussion keine Antwort.<br />

Darüber hinaus bemerken wir eine Art „missing<br />

link“ zwischen Werten und Normen. Es wird still -<br />

schweigend unterstellt, dass Werte eine moralische<br />

Angelegenheit sind und Normen eine rechtliche.<br />

Dabei wird aber übersehen, dass es nicht nur recht -<br />

liche, sondern auch moralische, politische und kulturelle<br />

Normen gibt. Im Hinblick auf unsere Ausgangsfrage,<br />

ob Europa eine Wertegemeinschaft oder<br />

eine Rechtsordnung sein soll, muss jedoch festgehalten<br />

werden, dass Werte im Unterschied zu rechtlichen<br />

Normen ein „weicherer“ Begriff sind: sie sind<br />

weniger formal, nicht zwingend, ein Sollen, aber<br />

kein obligatorisches Müssen. <strong>Die</strong>sen Verpflichtungscharakter<br />

nehmen Werte erst an, wenn sie tatsächlich<br />

zu Normen werden.<br />

Mit einem Einwand haben <strong>die</strong> Gegner<br />

einer Wertegemeinschaft Europa völlig recht: Werte<br />

können heute zu einem totalitären Zwang entarten,<br />

wenn sie dazu benützt werden, ungesetzliche Diskriminierung<br />

von Menschen, Gruppen oder Staaten zu<br />

legitimieren, wenn sie sich also an <strong>die</strong> Stelle der<br />

Rechtsordnung setzen.<br />

Wir müssen jedoch einen klaren Trennungsstrich<br />

ziehen zwischen dem wesentlichen Kennzeichen<br />

von Werten (dass sie nämlich gerade nicht au to ri -<br />

tär sind) und den Zwecken, für <strong>die</strong> gebraucht wer -<br />

den (dass sie also durch einem autoritären Machtstreben<br />

<strong>die</strong>nstbar gemacht werden). Werte sind<br />

nicht automatisch <strong>die</strong> Maske eines Willens zur<br />

Macht, wie Spaemann und vor ihm schon Nietzsche<br />

behaupten. In christlichen, aber auch in vielen<br />

fernöstlichen Traditionen finden wir eine ganze<br />

Reihe höherer geistiger Werte, <strong>die</strong> nichts mit dem<br />

Streben nach Macht zu tun haben: Mitgefühl,<br />

Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Hingabe, Groß -<br />

zügigkeit. Von Zeit zu Zeit treffen wir sogar auf<br />

Menschen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Werte verwirklichen.<br />

Auch lässt sich <strong>die</strong> Behauptung Michalskis, Werte<br />

lösten immer nur Konflikte aus, nicht aufrechterhalten,<br />

ebensowenig, dass sie unverbindlich und<br />

lediglich identitätsstiftend seien, wie Politiker gern<br />

betonen.<br />

Es kommt immer darauf an herauszufinden,<br />

unter welchen Bedingungen und in welchen Situationen<br />

Werte zu einem Konflikt führen und wo sie<br />

andererseits Brücken bauen zwischen Menschen,<br />

Gruppen und Nationen.<br />

Eine ernste Gefahr sehe ich in den Verlautbarungen<br />

mancher Politiker, wir müssten „unsere Werte<br />

verteidigen“ gegen ihre „Feinde“, z.B. gegen Extremisten.<br />

Es bleibt gefährlich unklar, was konkret<br />

damit gemeint ist, und wir haben den Eindruck,<br />

<strong>die</strong>se Aufforderung ist nur eine neue Form der Rede<br />

vom Kalten Krieg gegen „unsere Feinde“, vor denen<br />

wir uns zu fürchten hätten.<br />

Eine weitere Gefahr liegt darin, dass <strong>die</strong> so oft<br />

zitierten „europäischen Werte“ als exklusive Er run -<br />

genschaften der europäischen Kultur angesehen<br />

werden (wie es Balkenende, Giscard d’Estaing und<br />

andere gern tun). <strong>Die</strong>se Spielart des Eurozentrismus<br />

vergisst, das <strong>die</strong> Achtung der Menschen und ihrer<br />

Würde, aber auch Freiheit, Toleranz und Solidarität<br />

höchste Werte in einigen der ältesten Kulturen der<br />

Welt sind, etwa in In<strong>die</strong>n oder auch in China.<br />

Wie kann also <strong>die</strong> Europäische Union sich als „Pionier<br />

der Werte“ aufspielen, wenn sie ihren eigenen<br />

Bürgern nicht einmal erklären kann, was Werte<br />

sind?<br />

Ich komme zur Ausgangsfrage zurück: Soll Eu ro pa<br />

eine Wertegemeinschaft oder eine Rechtsordnung<br />

sein?<br />

Mir ist, offen gesagt,überhaupt nicht klar, warum<br />

<strong>die</strong> Frage in <strong>die</strong>ser Form gestellt wird, in <strong>die</strong>ser Entweder-oder-Form.<br />

Warum wird sie nicht als<br />

Sowohl-als-auch-Frage formuliert? Erinnert <strong>die</strong><br />

Frage nicht an <strong>die</strong> alte Streitfrage, was zuerst da war,<br />

<strong>die</strong> Henne oder das Ei?<br />

<strong>Die</strong> Gegner einer Wertemeinschaft nehmen an,<br />

dass ein als Wertegemeinschaft konstituierter Staat<br />

allein dadurch ein totalitärer Staat ist, dass er sich als<br />

einen „Beauftragten höherer Werte“ versteht, einer

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