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die vermeidbare katastrophe die ersten warnzeichen ... - Die Gazette

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Und jetzt stehe ich hier. In München. Müde, ausgelaugt,<br />

tot.<br />

Wir haben uns nur wenige Schritte von der Bushaltestelle<br />

entfernt. Obwohl ich so benommen bin,<br />

höre ich plötzlich schrille Schreie. Es kommt mir<br />

vor, als befände ich mich in einem Fußballstadion.<br />

Dutzende, vielleicht Hunderte Männer grölen auswendig<br />

gelernte Parolen. Doch Moment: Es sind<br />

zwei Gruppen. Sie schreien aneinander an. Mit<br />

einem großen Fragezeichen im Gesicht schaue ich<br />

meine Tante verständnislos an. „Wer sind <strong>die</strong>?<br />

Warum schreien <strong>die</strong> so?“ „Oh, Sofia. Es tut mir so<br />

Leid. Es tut mir so Leid, dass das erste, was du hier<br />

siehst, eine Demonstration von Rechtsradikalen<br />

ist.“ „Was heißt rechtsradikal? Meinst du, <strong>die</strong> sind so<br />

wie Hitler? Gegen Ausländer? Gegen mich?“ „Nein,<br />

<strong>die</strong> sind nicht gegen dich, Sofia. <strong>Die</strong> protestieren<br />

einfach. Gegen Arbeitslosigkeit.“ „Und warum steht<br />

dann auf den Plakaten Deutschland den Deutschen?<br />

Warum grölen <strong>die</strong> Gebt uns unsre Arbeitsplätze wieder,<br />

Schickt sie doch nach Hause? Meinen <strong>die</strong><br />

mich?“ „Sofia, hör auf. Du hattest eine lange Fahrt.<br />

Lass uns jetzt schnell zu mir nach Hause gehen.“<br />

Und sie fasst mich fest an der Hand und schleift<br />

mich zu ihrem Auto. Aber ich will nicht. Ich will <strong>die</strong><br />

Wahrheit wissen. Vor allem: Wer sind <strong>die</strong>se anderen?<br />

Auf der gegenüberliegenden Seite? Auch sie schreien<br />

und fuchteln mit ihren selbstgemachten Transparenten<br />

herum. Ich höre nur Wortfetzen wie „Weg mit<br />

euch“, „Braune Masse“, „Für Toleranz, Gegen<br />

Rechts“. Sind das vielleicht <strong>die</strong> Guten? Ich reiße<br />

mich los und renne trotz meiner Müdigkeit der<br />

Masse entgegen. Doch bevor ich dort bin, sehe ich<br />

plötzlich eine Horde von Polizisten, <strong>die</strong> mich aufhalten<br />

wollen.<br />

Ich habe keine Chance gegen sie. Sie sind zu viele.<br />

Aber ich habe eine Chance, wenigstens von ihnen<br />

<strong>die</strong> Wahrheit zu erfahren. Also frage ich, was <strong>die</strong><br />

ganze Menge hier soll und warum alle so schreien.<br />

Ein breites Grinsen macht sich auf den Gesichtern<br />

der Polizisten breit. Hab ich was Falsches gefragt?<br />

Ist es etwa mein brüchiges Deutsch, dass so zur<br />

Erheiterung beiträgt? „Eine Demo wie jede andere.<br />

Eine kleine Nazi-Demo. Nichts Besonderes eben.“,<br />

antwortet mir einer <strong>die</strong>ser grünen Männer. „Nichts<br />

Besonderes?“, schießt es mir wie ein Blitzgewitter<br />

durch den Kopf. <strong>Die</strong>se komischen schwarzen Lederstiefel.<br />

<strong>Die</strong>se abartigen Parolen. Und das<br />

Schlimmste: <strong>Die</strong>se vor Hass triefenden Fratzen, <strong>die</strong><br />

unaufhörlich grölen und einen Fuß vor den anderen<br />

setzen. Das alles soll also nichts Besonderes sein? Reiner<br />

Alltag etwa? Also bei uns sieht Alltag anders aus.<br />

Starr vor Entsetzen blicke ich wieder in <strong>die</strong> Menge.<br />

Das soll Deutschland sein? Ein Land des Friedens,<br />

in dem heutzutage noch Nazis rumlaufen dürfen?<br />

Ein Land der Gleichberechtigung, in dem rassistische<br />

Äußerungen auf freier Straße ohne Konsequenzen<br />

gemacht werden können? Es ist absurd. So habe<br />

ich mir meine Ankunft wirklich nicht vorgestellt.<br />

Fliegende Flaschen, <strong>die</strong> wie Mini-Ufos <strong>die</strong> Luft<br />

durchstreifen, kreuzen mein Sichtfeld. Das Komische<br />

ist, dass nicht <strong>die</strong> Nazis damit schmeißen, sondern<br />

<strong>die</strong>, <strong>die</strong> ich eigentlich für <strong>die</strong> Guten gehalten<br />

habe. Es ist, als ob <strong>die</strong> beiden Gruppen <strong>die</strong> Rollen<br />

getauscht hätten. Während <strong>die</strong> Rechtsradikalen nur<br />

wie wild herumbrüllen, versuchen <strong>die</strong> anderen, mit<br />

in <strong>die</strong> Menge geworfenen Flaschen und Steinen <strong>die</strong><br />

Nazis zu verletzen.<br />

Vor meinen Augen verschwimmt alles zu einem<br />

riesengroßen Klumpen. Ich spüre, wie meine Beine<br />

langsam nachgeben. Höre das Pochen in meinem<br />

Kopf, das dem meines Herzens gleicht. Obwohl sich<br />

vor meinen Augen alles so undeutlich abzeichnet,<br />

sehe ich, am Rand eines Gehsteigs, einen schwarzen,<br />

zusammengekrümmten Fleck. Ich meine, eine ältere<br />

Dame zu erkennen. Mit meinem Finger auf sie deutend,<br />

stammele ich: „Dort. Da. Dort liegt jemand.<br />

Eine Dame. Sie kann nicht aufstehen. Sie müssen<br />

ihr helfen.“ Einer der Polizisten, der gerade neben<br />

mir steht, folgt mit seinem Blick meinem Zeigefinger.<br />

„Tatsächlich“, höre ich ihn antworten. Und<br />

schon rennt er mit einem Kollegen der älteren Dame<br />

entgegen, <strong>die</strong> hilflos auf der Straße liegt und nicht<br />

fähig ist, aus eigener Kraft aufzustehen. Ich kann es<br />

nicht fassen. Kein Mensch bei <strong>die</strong>ser Demonstration<br />

fühlt sich verpflichtet, ihr zu helfen. Sie liegt mitten<br />

in einem Scherbenhaufen. Scherben, <strong>die</strong> von den<br />

Mini-Ufos stammen. Scherben, welche <strong>die</strong> Hand<br />

der Dame aufgerissen haben.<br />

Plötzlich fasst mich eine Hand von hinten. Ich<br />

drehe mich um und erblicke meine Tante. Mit entsetzten<br />

Augen starrt sie mich an. Unfähig, etwas zu<br />

sagen, reißt sie mich in ihre Arme. Sie umarmt mich,<br />

küsst mich. Nachdem sie fertig ist, ist mein ganzes<br />

Gesicht von ihren Tränen benetzt. „Komm, Sofia,<br />

lass uns gehen. Es war ein langer Abend.“ Widerstandslos<br />

füge ich mich ihrem Willen. Wir steigen<br />

ins Auto und fahren zu meiner Tante nach Hause.<br />

Auf dem Weg wechseln wir kein Wort. Wir beide<br />

wissen: <strong>Die</strong> richtigen Worte für einen Eintritt ins<br />

vermeintlich europäische Para<strong>die</strong>s gibt es nicht.<br />

Zu verharmlosen, was ich gesehen, wird sich meine<br />

Tante nicht trauen. Das weiß ich. <strong>Die</strong> Wahrheit<br />

darüber zu sagen, was ich über <strong>die</strong>se Demonstration<br />

– soll das etwa so weitergehen? – denke, das kann ich<br />

meiner Tante auch nicht antun. Das Schweigen ist<br />

für uns wie ein Schützengraben, was uns vor den<br />

Bomben der Demonstration schützt. Aus ihm<br />

herauszukriechen, etwas zu sagen, trauen wir uns<br />

beide nicht.<br />

In ihrer Wohnung angekommen, erwartet mich<br />

das nächste Übel. Noch bevor ich aussteige, sehe<br />

ich, dass eine große lächelnde Menschenmenge<br />

mich mit Blumen und Geschenken vor Tantes<br />

Tür erwartet. Aber lächeln kann ich nicht. Wie<br />

soll ich das können? Wie kann ich es wollen? Aber<br />

dann erinnere ich mich an mein eigenes Versprechen.<br />

An das, was ich beschlossen habe, als ich<br />

in München angekommen bin. Ja, ich bin eine<br />

neue Sofia – bin ich?<br />

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