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Kapitel IV<br />

Befugnisse waren so umfangreich, dass<br />

diesen Kräften de facto sogar die Aufsicht<br />

über die Entscheidungen der<br />

Protektoratsorgane zustand. Der deutschen<br />

Gerichtsbarkeit unterstanden auch immer<br />

mehr als strafbar geltende Handlungen, so<br />

dass die Protektoratsverwaltung immer<br />

weiter sowohl in der Untersuchung als auch<br />

in der Gerichtsbarkeit ausgeschaltet wurde.<br />

Ein grundsätzliches Rechtsproblem<br />

bestand darin, dass der Erlass auf keine<br />

Weise spezifizierte, was das Protektorat<br />

eigentlich sei. Diese „autonome<br />

Verwaltungseinheit“ war nirgendwo<br />

territorial bestimmt – die Grenzziehung<br />

hing nämlich wieder von der Entscheidung<br />

Hitlers ab. Sie wurde aber auch in Bezug auf<br />

die Tschechen und die tschechische Nation<br />

nicht definiert – obwohl dies so nach Hitlers<br />

Worten zu Hácha hätte gewesen sein sollen.<br />

Der Begriff „tschechische Nation“ erscheint<br />

im Text seiner Artikel überhaupt nicht!<br />

Hitlers Erlass kennt nur „übrige (d.h. nichtdeutsche)<br />

Bewohner von Böhmen und<br />

Mähren“, das Protektorat – das sind einfach<br />

„die von den deutschen Truppen im März 1939<br />

besetzten Landesteile der ehemaligen tschechoslowakischen<br />

Republik“. Es geht hier nicht um<br />

ein Versäumnis, sondern um eine Absicht.<br />

Das Protektorat sollte eine<br />

Übergangserscheinung gewesen sein. Sein<br />

Territorium sollte zum „stählernen Kern des<br />

Dritten Reiches“ gehören, und nur<br />

außenpolitische und wirtschaftliche<br />

Rücksichten verhinderten, dass es dazu nicht<br />

sofort und nicht mit allen Auswirkungen auf<br />

die Nationalitäten kam.<br />

Als einen gewissen nationalen Aspekt der<br />

Protektoratsordnung könnte<br />

man die Existenz der<br />

„Protektoratsstaatsangehörigkeit“<br />

betrachten. Die auf dem<br />

Protektoratsterritorium lebenden Bewohner<br />

deutscher Nationalität waren automatisch<br />

„deutsche Staatsangehörige“ oder<br />

„Reichsbürger“ und unterstanden deutschen<br />

Rechtsnormen. Sie lebten also völlig<br />

außerhalb der Reichweite der<br />

Protektoratsbehörden. Die „übrigen<br />

Bewohner von Böhmen und Mähren“ waren<br />

dagegen dem Wortlaut des Erlasses über die<br />

Protektoratserrichtung nach<br />

Staatsangehörige des Protektorats, einfach<br />

gesagt also Bürger zweiter Klasse. Aus eben<br />

dieser Unterscheidung ergab sich eine Reihe<br />

von praktischen Folgen – die<br />

grundlegendsten und wichtigsten davon sind<br />

Die Zerschlagung der ČSR, das Protektorat und die<br />

Genese der Aussiedlung<br />

122<br />

in den vorangegangenen Absätzen<br />

angesprochen worden. In einer allgemeinen<br />

Formulierung zusammengefasst: Die<br />

Protektoratsautonomie wurde sehr vage<br />

formuliert und konnte jederzeit gekündigt<br />

werden. Sie wurde auch schrittweise stärker<br />

eingeschränkt, bis sie im direkten<br />

Zusammenhang mit der Kriegsentwicklung<br />

praktisch aufhörte zu existieren. Die These<br />

aus Hitlers Erlass vom 16. März 1939, dass<br />

das Protektorat Böhmen und Mähren sich<br />

autonom verwalte, erwies sich als Lüge im<br />

Sinne des Sprichwortes „mit Speck fängt<br />

man Mäuse“.<br />

Die Okkupation des Territoriums von<br />

Böhmen und Mähren, das nicht in die<br />

Münchener Annexion einbezogen worden<br />

war (in Hitlers Vokabular der „Rest-<br />

Tschechei“), bedeutete für die weitere<br />

Etwicklung der Idee einer Aussiedlung der<br />

Sudetendeutschen einen grundlegenden<br />

Meilenstein. Der Feind wurde jetzt ganz<br />

klar, und diese Idee verbreitete sich seit<br />

dem 15. März 1939 allmählich in weiten<br />

Teilen des tschechischen Volkes. Für diese<br />

Idee sprachen sich die ersten<br />

Widerstandsorganisationen sowie ein<br />

großer Teil der öffentlichen Meinung aus.<br />

Diese Entwicklung fand ihren ersten<br />

Höhepunkt nach der brutalen deutschen<br />

Vergeltung für die großen tschechischen<br />

Demonstrationen am 28. Oktober, also<br />

zum 21. Jahrestag der Gründung der ČSR.<br />

Die Deutschen schlossen damals<br />

tschechische Hochschulen (angeblich für<br />

drei Jahre – dies hielten sie jedoch nicht<br />

ein und hatten auch nie die Absicht, es<br />

einzuhalten), die Studenten wurden brutal<br />

verhaftet und in das Konzentrationslager<br />

Sachsenhausen eingesperrt, einige<br />

führende Köpfe der Stundenten wurden<br />

hingerichtet.<br />

DAS PROTEKTORAT<br />

UND DIE JUDEN<br />

Hand in Hand damit gingen die<br />

Okkupanten auch zur Vorbereitungen auf<br />

die spätere Vernichtung der Juden über, und<br />

zwar durch die Einrichtung eines „Ghettos<br />

ohne Mauer“. Darunter verstand man den<br />

Einzug des jüdischen Vermögens mittels der<br />

„Arisierung“, die Zusammenlegung<br />

mehrerer Familien in eine schlechtere<br />

Wohnung und eine Reihe von weiteren<br />

kleinen Schritten, welche die Juden<br />

moralisch erniedrigen und eine Barriere<br />

zwischen ihnen und der tschechischen

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