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Kapitel VIII Die Interpretation der Zwangsaussiedlung<br />

Deutsch-Tschechischen Historikerkommission<br />

sind besorgt über die mißbräuchliche<br />

Verwendung historischer Argumente in der<br />

gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung.<br />

Dabei stehen die sogenannten Beneš-Dekrete im<br />

Mittelpunkt, von denen einige sich auf die<br />

Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus<br />

der Tschechoslowakei nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg ausgewirkt haben. Es ist wichtig, sich<br />

auf die Tatsachen zu besinnen:<br />

Die grundlegenden Fakten, welche die<br />

Ereignisse der unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

bestimmt haben, waren der grausame Weltkrieg<br />

und die Verbrechen des Nationalsozialismus. In<br />

diesem Kontext wurde 1945 in der<br />

Tschechoslowakei u.a. durch die Beneš-Dekrete<br />

eine Rechtslage geschaffen, in der die<br />

Angehörigen der deutschen Minderheit einige<br />

Grundrechte verloren, enteignet und des<br />

Landes verwiesen worden sind. Dies wurde<br />

mit den politischen Entwicklungen begründet,<br />

die 1938 zum Münchener Abkommen und<br />

1939 zur Zerschlagung der Tschechoslowakei<br />

durch das Dritte Reich geführt hatten, mit der<br />

in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre bei<br />

großen Teilen der sudetendeutschen<br />

Bevölkerung wachsenden Zustimmung zur<br />

NS-Politik, aber auch mit der Gewalt der<br />

deutschen Besatzung. Gegner des NS-Regimes<br />

und diejenigen Bürger, die in den Jahren 1938-<br />

1945 ihre Loyalität gegenüber der Republik<br />

unter Beweis gestellt hatten, waren von den<br />

Rechtsverordnungen nicht betroffen, wiewohl<br />

diese nicht immer konsequent eingehalten<br />

wurden.<br />

Während des Zweiten Weltkrieges zogen die<br />

Regierungen der drei alliierten Großmächte und<br />

das tschechoslowakische Exil unter Führung von<br />

Edvard Beneš aus diesen Entwicklungen den<br />

Schluß, daß eine Wiederholung von ‚München‘<br />

verhindert werden müsse. Die Überzeugung<br />

war verbreitet, daß eine Friedensordnung in<br />

Ostmitteleuropa nur durch die Schaffung<br />

national homogener Staaten zu erreichen sei.<br />

Minderheiten sollten nach dieser Vorstellung<br />

nicht mehr bestehen. Dies schien innerhalb des<br />

tschechoslowakischen Exils wie auch im<br />

einheimischen Widerstand seit Ende 1938<br />

durch die Abtretung eines Teils der deutschen<br />

Siedlungsgebiete jenseits der militärischen<br />

Befestigungsanlagen möglich zu sein; ein<br />

weiterer Teil der Bevölkerung sollte umgesiedelt<br />

werden. Das änderte sich in dem Maße, in dem<br />

im Verlauf des Krieges die Bereitschaft nachließ,<br />

Gebietsabtretungen zuzulassen. Deshalb sollte<br />

die Tschechoslowakei in den Grenzen von 1937<br />

wiederhergestellt und die überwiegende<br />

286<br />

Mehrheit der Deutschen aus der<br />

Tschechoslowakei ausgesiedelt werden. Damit<br />

wurde auch die ursprüngliche Erwägung<br />

aufgegeben, nach individueller Schuld und<br />

Verantwortung der Deutschen zu urteilen.<br />

Da bei den Alliierten über das Ziel ethnisch<br />

möglichst homogener Staaten im Grundsatz<br />

Einigkeit bestand, spielte 1945 auf der<br />

Potsdamer Konferenz die Vertreibung der<br />

Deutschen aus der Tschechoslowakei – sowie<br />

Polen und Ungarn – nur noch eine<br />

untergeordnete Rolle; zur Debatte standen<br />

vorwiegend die Modalitäten der Aussiedlung.<br />

Der damals in der Öffentlichkeit der<br />

Tschechoslowakei und anderer Länder<br />

verbreitete Haß gegen die Deutschen wurde<br />

durch den Ruf nach Vergeltung für Lidice und<br />

andere Terrorakte der deutschen<br />

Besatzungsmacht verstärkt und von vielen als<br />

Freibrief für Gewalttaten genutzt. Teile der<br />

deutschen Bevölkerung wurden vor allem in den<br />

ersten Monaten nach Kriegsende unter oft<br />

unmenschlichen Bedingungen vertrieben. Nach<br />

der Potsdamer Konferenz wurde, vor allem im<br />

Jahre 1946, die Masse der Deutschen aus der<br />

Tschechoslowakei ausgesiedelt.<br />

Die Ereignisse des Jahrzehntes von 1938-<br />

1948 dürfen nicht vergessen lassen, daß<br />

Tschechen und Deutsche jahrhundertelang in<br />

den böhmischen Ländern friedlich<br />

zusammengelebt haben und daß die Mehrheit<br />

der deutschen Wähler im tschechoslowakischen<br />

Staat vor 1935 demokratischen, staatsloyalen<br />

deutschen Parteien ihre Stimme gegeben hat.<br />

Was die Rechtsfigur einer Kollektivschuld<br />

betrifft, vertritt die Kommission nach wie vor<br />

den Standpunkt, auf den sie sich bereits<br />

1996 in der Skizze zu einer Darstellung der<br />

deutsch-tschechischen Geschichte seit<br />

dem 19. Jahrhundert „Konfliktgemeinschaft,<br />

Katastrophe, Entspannung“ geeinigt hat:<br />

„Zweifellos verstoßen alle Vertreibungen und<br />

Zwangsaussiedlungen gegen grundlegende<br />

Vorstellungen von Menschenrechten.<br />

Vor fünfzig Jahren gehörten sie zu den<br />

Konsequenzen des von der deutschen<br />

politischen Führung ausgelösten<br />

Krieges und der in seinem Zusammenhang<br />

durchgeführten Umsiedlungsaktionen,<br />

schließlich der Vernichtung ganzer<br />

Bevölkerungsteile.“<br />

Die Kommission hat den in der Deutschtschechischen<br />

Erklärung von 1997 formulierten<br />

Standpunkt begrüßt – und stimmt ihm<br />

weiterhin zu –, daß die tschechisch-deutschen<br />

Beziehungen nicht mit der Vergangenheit<br />

belastet werden sollen. Dies erleichtert es beiden

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