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Tschechen, Deutsche und die Entstehung der ČSR Kapitel II<br />

Verband im Wiener Reichsrat und im<br />

Prager Nationalausschuss vereint war, zur<br />

Idee eines selbständigen Staates über, die<br />

am 28. Oktober 1918 den Sieg davon trug.<br />

Da die Föderalisierung, die „des Kaisers<br />

Völker“ siebzig Jahre lang für ihr ersehntes<br />

Ziel gehalten hatten, seitens des Kaisers zu<br />

spät kam – zumal in einer Zeit und Form,<br />

die niemandem mehr entsprachen, nicht<br />

einmal den österreichischen Deutschen,<br />

siegten die Nationalstaaten in Mittel- und<br />

Südosteuropa sowie im Baltikum, welches<br />

sich wiederum von Russland trennte. Die<br />

österreichischen Deutschen rückten zuletzt<br />

zur alten großdeutschen Idee zurück, an<br />

deren Verwirklichung sie jedoch die<br />

Entente hinderte.<br />

Die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges<br />

veränderten also den gesamten Raum<br />

„zwischen der Ostsee und der Adria“<br />

(Masaryk). Anstatt von drei großen<br />

Kaiserreichen beherrscht zu werden, wurde<br />

er zu einer Zone von kleinen und mittleren<br />

Nationalstaaten, die allerdings ihre<br />

Minderheiten hatten und Nationalstaaten<br />

vielmehr de jure als de facto waren. Zudem<br />

wurde der Raum von der Nachbarschaft der<br />

zwei traditionellen „Flankenriesen“<br />

umrahmt – Russlands, das nicht mehr<br />

zaristisch, sondern bolschewistisch war, und<br />

Deutschlands, das nach dem Krieg zunächst<br />

eine demokratische Republik war, sich sehr<br />

bald aber in eine nationalsozialistische<br />

Diktatur verwandelte.<br />

Die Konflikte der alten Anordnung des<br />

gegebenen Raumes wurden somit gelöst,<br />

zugleich begannen jedoch neue Konflikte zu<br />

keimen. Nach Jahren, die seit der<br />

Unterzeichnung der Friedensverträge in den<br />

Schlössern St.-Germain, Trianon und vor<br />

allem Versailles vergangen sind, ist die Frage<br />

legitim (sie wird übrigens seit 1918 gestellt),<br />

ob das neue „Versailler“ System besser war<br />

als das alte. Nach den Erfahrungen mit dem<br />

Frieden von Brest-Litowsk, mit der<br />

deutsch-nationalsozialistischen Expansion,<br />

der Okkupation und dem Zweiten<br />

Weltkrieg sowie nach der Erfahrung mit der<br />

Umwandlung des besagten Raumes in<br />

Grenzland des sowjetisch-russischen<br />

Imperiums und auch im Zusammenhang<br />

mit der nun verlaufenden Integration der<br />

Europäischen Union ist diese Frage sicher<br />

nicht überflüssig.<br />

Die Staatenerosion („Balkanisierung“<br />

oder auch „Kleinstaaterei“) zerstörte den<br />

ehemaligen umfangreichen Binnenmarkt,<br />

49<br />

insbesondere im alten Österreich-Ungarn,<br />

was dort nicht geringe wirtschaftliche<br />

Sorgen verursachte. In den neuen Staaten<br />

wurden mit der Zeit autoritäre oder sogar<br />

halbfaschistische Regime anstatt der<br />

vorausgesetzten Demokratie installiert. Die<br />

Tschechoslowakische Republik wurde<br />

zuletzt praktisch zur einzigen<br />

demokratischen Ausnahme. Die innere wie<br />

äußere Schwäche dieser Staaten sowie<br />

Konflikte untereinander erleichterten<br />

Hitlers Deutschland seine wirtschaftliche<br />

und politische Durchdringung und zuletzt<br />

auch die Entfesselung des Zweiten<br />

Weltkrieges mit Zielen und Methoden, bei<br />

deren Vergleich die Expansion des<br />

wilhelminischen Deutschlands nur ein<br />

Halbfabrikat war, was auch für den<br />

Vergleich der beiden Weltkriege gilt. Die<br />

Erneuerung der „Kleinstaaterei“ nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg verhalf ebenfalls zur<br />

Entstehung des sowjetisch-russischen<br />

Imperiums, das auch die Tschechoslowakei<br />

einschloss.<br />

Es mag scheinen, als ob diese<br />

Feststellungen sowohl die zeitgenössischen<br />

kritischen Stimmen gegen „Versailles“ und<br />

das neue Europa als auch die vorsichtige<br />

oder bisweilen opportunistische Einstellung<br />

der tschechischen inländischen Politik<br />

rechtfertigen würden. Andere,<br />

entgegengesetzte Argumente sprechen<br />

dagegen. War eine Aufrechterhaltung von<br />

Österreich-Ungarn bzw. die Gründung der<br />

Föderation der Donaustaaten – und hier ist<br />

der positive Kern der Kritik des Versailler<br />

Systems in Mitteleuropa zu sehen –<br />

tatsächlich möglich? Die Antwort lautet:<br />

nicht in der praktischen Politik am<br />

Kriegsende und danach, weder allgemein<br />

noch speziell bei den Tschechen. Der Grund<br />

lag darin, dass die potenzielle und die<br />

entworfene Föderation niemand wollte.<br />

Weder die Entente noch die Nationen der<br />

neu entstandenen Staaten noch<br />

österreichische Deutsche. Diese spielten<br />

zwar anfänglich mit dieser Idee, in der Tat<br />

gingen sie aber sehr bald zur Forderung<br />

einer Einigung im großdeutschen Rahmen<br />

über. Die großdeutsche Lösung, die der<br />

traditionellen Ideologie gemäß alle<br />

Deutschen – wenn möglich – samt ihren<br />

Gebieten in einem Staat vereinen wollte,<br />

war in der Wirklichkeit die einzige<br />

tragfähige und elektrisierende Idee, die man<br />

gegen die Idee des<br />

Selbstbestimmungsrechtes kleiner Nationen

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