GESCHICHTE VERSTEHEN
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Kapitel III<br />
Die Minderheitenfrage war in der<br />
Zwischenkriegszeit insbesondere in den<br />
Staaten Mittel- und Osteuropas,<br />
einschließlich der ČSR, besonders aktuell.<br />
Diese Staaten waren im Prinzip beim<br />
Minderheitenschutz ähnlich völkerrechtlich<br />
gebunden, d.h. durch die<br />
Minderheitenverträge unter Aufsicht des<br />
Völkerbundes. Diese sollten das Fundament<br />
für die Stellung der Minderheiten bilden<br />
und Vorrang vor sämtlichem Recht dieser<br />
Staaten haben. Große<br />
Minderheitenprobleme gab es bereits vor<br />
dem Ersten Weltkrieg – wie beispielsweise<br />
die Unterdrückung der Armenier im<br />
Osmanischen Reich. Zu der Zeit waren<br />
allerdings nur starke Minderheiten zu<br />
hören. Der Weltkrieg und Wilsons Parolen<br />
von der Selbstbestimmung stärkten das<br />
Selbstbewusstsein einzelner ethnischer<br />
Gruppen, und ein Minderheitenproblem<br />
tauchte dann auch in solchen Ländern auf,<br />
in denen es vorher gar nicht existierte.<br />
Minderheiten gab es selbstverständlich<br />
nicht nur in Mittel- und Osteuropa. Die<br />
radikale Veränderung der Situation und<br />
Grenzen aktivierte jedoch die dortige<br />
Bevölkerung am stärksten. Durch die<br />
Entstehung neuer Staaten oder durch<br />
Grenzänderungen gerieten auch<br />
Angehörige der Völker, die bisher zu den<br />
herrschenden gehört hatten, in die<br />
Minderheitenposition: In Mitteleuropa<br />
waren es Deutsche und Ungarn.<br />
Der Anteil der Minderheiten an der<br />
gesamten Bevölkerungszahl war auch nach<br />
den offiziellen, oft ziemlich unzuverlässigen<br />
Statistiken beträchtlich: 34% in Polen, 33%<br />
in der ČSR, 29% in Litauen, 25% in<br />
Lettland, 20% in Griechenland, 15% in<br />
Jugoslawien und in Bulgarien, 13% in<br />
Rumänien, 12% in Ungarn, 8% in<br />
Österreich. Starke Minderheiten tauchten<br />
also nicht nur in neuen Staaten auf, wie zum<br />
Beispiel in der ČSR, sondern viele<br />
Angehörige fremder Nationalitäten blieben<br />
auch in den Staaten, die nach dem Krieg<br />
einen Teil ihres Territoriums verloren<br />
hatten, wie beispielsweise in Ungarn. Das<br />
Herangehen der einzelnen Staaten an die<br />
Minderheitsproblematik war<br />
unterschiedlich und es ist äußerst schwierig,<br />
einen Vergleich durchzuführen wegen<br />
unterschiedlicher Verfahren der rechtlichen<br />
Regelung, wegen der schwer vergleichbaren<br />
Systeme der öffentlichen Verwaltung sowie<br />
im Hinblick auf die unterschiedlichen<br />
Zwanzig Jahre der Tschechen und Deutschen<br />
in der demokratischen ČSR<br />
76<br />
kulturellen Bedingungen und auf die<br />
heterogenen Charakteristika und Faktoren<br />
zur Selbstidentifikation der einzelnen<br />
Minderheiten. Von den Staaten mit<br />
internationalen Verpflichtungen war<br />
vielleicht am wohlwollendsten das<br />
Herangehen Estlands und der ČSR. Aber<br />
auch die Politik von Österreich, Litauen<br />
oder Lettland war Minderheiten gegenüber<br />
nicht negativ eingestellt. Relativ schlimm<br />
war die Situation in Polen und Ungarn und<br />
noch schlimmer dann in Jugoslawien,<br />
Ein verzweifelter Planer der deutschtschechischen<br />
Versöhnungsbrücke in einer<br />
tschechischen Karrikatur von 1913:<br />
„O Gott, o Gott, Menschenskinder,<br />
so kommt ihr nie im Leben zusammen!“<br />
Bulgarien, Griechenland und Rumänien.<br />
Albanien und die Türkei unterdrückten ihre<br />
Minderheiten offensichtlich. Nicht einmal<br />
die Stellung der Minderheiten innerhalb<br />
eines Staates muss identisch gewesen sein.<br />
Neben den allgemeinen internationalen<br />
Verpflichtungen zum Schutz von<br />
Minderheiten galten nämlich oft auch<br />
vorteilhaftere bilaterale Verträge. In<br />
Jugoslawien gab es beispielsweise<br />
Sonderverträge für die italienische und die<br />
rumänische Minderheit, die mit ihren<br />
Mutterländern abgeschlossen wurden. In<br />
der Praxis hing es allerdings vor allem von<br />
dem gesellschaftlichen Niveau der<br />
gegebenen Minderheit ab, inwieweit sie in<br />
der Lage war, ihre Rechte im Inland und auf<br />
internationaler Ebene zu verteidigen<br />
(deutsche Minderheiten waren in der Regel