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Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)

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STIL<br />

Porträt<br />

IM NETZ WIRD JEDER STALKER<br />

<strong>Die</strong> Fotografin Ailine Liefeld hat im Internet Erfolg mit <strong>Auf</strong>nahmen vom Essen. Ihre<br />

Bilder bieten Bodenständigkeit, die viele Menschen im digitalen Zeitalter dringend suchen<br />

Von LENA BERGMANN<br />

Foto: Marlen Mueller<br />

Es sind nur Eier. Spiegeleier mit<br />

Speck, auf einem Teller von Ikea.<br />

Doch das Bild dieser Spiegeleier<br />

geht um die Welt. <strong>Auf</strong> der Blogging-<br />

Plattform tumblr hat Ailine Liefeld über<br />

130 000 Follower aus aller Herren Länder<br />

– eine Zahl, die höher liegt als die<br />

<strong>Auf</strong>lage so manches etablierten Essensmagazins.<br />

<strong>Die</strong> Eierspeise, die sie in ihrer<br />

Berliner Küche zubereitet hat, mit noch<br />

wackligem Eiweiß, einem Dreh grobem<br />

Pfeffer <strong>und</strong> krustig gewelltem Speck an<br />

der Seite, interessiert einfach eine Menge<br />

Leute. Es sind Leute, deren Konsumverhalten<br />

– auch was Bilder betrifft – inzwischen<br />

maßgeblich vom Internet bestimmt<br />

wird.<br />

Jede Zeit hat ihre Bilder. Kürzlich<br />

wurde „selfie“ von den Oxford Dictionaries<br />

zum englischen Wort <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong><br />

2013 gekürt: Es bezeichnet ein mit dem<br />

Smartphone aufgenommenes <strong>und</strong> typischerweise<br />

über soziale Netzwerke verbreitetes<br />

Selbstporträt. Zur unerschöpflichen<br />

digitalen Bilderflut unserer Zeit<br />

gehören aber auch Millionen sogenannter<br />

Lifestyle-Fotos. Man könnte auch<br />

schlicht sagen: Bilder aus dem Leben.<br />

Und auf die hat sich die Fotografin Ailine<br />

Liefeld, 32 Jahre alt, spezialisiert.<br />

Inzwischen kursiert noch ein Begriff:<br />

Lifestyle Porn. Er meint ein begieriges,<br />

dem Verhalten der Nutzer von Pornoseiten<br />

verwandtes Konsumieren visueller<br />

Schlüsselreize – nur dass nicht explizite<br />

Sexszenen, sondern Wohnzimmereinrichtungen,<br />

Blumenarrangements oder<br />

Mehlspeisen die Faszination auslösen.<br />

Beim Konsum dieser Bilder spielen<br />

digitale Fotoalben wie Pinterest oder Instagram<br />

die zentrale Rolle. Pinterest zum<br />

Beispiel funktioniert als digitale Pinnwand,<br />

auf der jeder Internetnutzer ein<br />

Profil anlegen <strong>und</strong> durch visuelle Lesezeichen<br />

Bilder sammeln kann, auf die er<br />

im Netz gestoßen ist. So kann jeder Nutzer<br />

eine riesige persönliche Sammlung<br />

anlegen <strong>und</strong> nach Inhalt kategorisieren.<br />

<strong>Auf</strong> Liefelds Pinnwand lauten die Kategorien<br />

zum Beispiel Cake, Burger oder<br />

On Bread. Damit man nicht den Überblick<br />

im Bilderstrom verliert, ruft Pinterest<br />

explizit zur Ordnung auf.<br />

IN LIEFELDS WOHNUNG in der obersten<br />

Etage eines Berliner Plattenbaus hingegen<br />

wird diese eher lässig gehandhabt. Im Flur<br />

steht ihr Fahrrad, über dem Sofa liegen<br />

Kleider, in der Küche stapelt sich das Geschirr.<br />

<strong>Auf</strong> den Bildern, die sie aus dieser<br />

Wohnung regelmäßig auf ihren Blog<br />

„aicuisine.com“ hochlädt, sieht man davon,<br />

was fotogen ist. Sie fotografiert kleine<br />

Stillleben aus ihrem Alltag, Details wie<br />

eine scharfe Tellerkante, an der eine Messinggabel<br />

lehnt, in der sich die Sonne spiegelt.<br />

Ein paar gebackene Kartoffeln mit<br />

Schale, eine Schüssel Spinatsalat. Ihre<br />

Bildsprache zelebriert das Einfache, das<br />

schätzen inzwischen auch große Unternehmen.<br />

Versicherungen wie die Allianz<br />

<strong>und</strong> Küchenhersteller wie Neff buchen sie<br />

für ihre Werbekampagnen. Worauf ist dieser<br />

Erfolg zurückzuführen? Warum liegen<br />

<strong>Auf</strong>nahmen, die den Alltag romantisieren,<br />

das im Gr<strong>und</strong>e Banale, eine Mahlzeit zum<br />

Beispiel, im Trend?<br />

Sie sind Teil einer Hinwendung der<br />

digitalisierten Welt zur sogenannten Authentizität,<br />

zum Unperfekten, die im Internet<br />

zuerst in der Modefotografie zu<br />

beobachten war, in Streetstyles, Modeaufnahmen<br />

von der Straße, von mehr<br />

oder weniger gut gekleideten „normalen“<br />

Leuten. Eine ähnliche Entwicklung<br />

fand beim Thema Wohnen statt. <strong>Auf</strong> einmal<br />

tauchten in Blogs Fotos von lebensechten,<br />

sogar unordentlichen Wohnungen<br />

auf. Hier polierte kein Stylist jeden<br />

Apfel, bevor der Fotograf loslegen durfte.<br />

In diesem Bereich zählte die in Brandenburg<br />

geborene Liefeld zu den Pionieren.<br />

Nach ihrem Fotografiestudium<br />

gründete sie die erfolgreiche Wohn-Webseite<br />

„Fre<strong>und</strong>e von Fre<strong>und</strong>en“ mit, auf<br />

der Behausungen von Berliner Kreativen<br />

gezeigt wurden – ungeschminkt fotografiert,<br />

als Kontrast zur damals noch<br />

oft klinisch-perfekten Bildsprache der<br />

Wohnmagazine. „Dass jetzt das Essen die<br />

Menschen interessiert, ist für mich nur<br />

konsequent“, sagt die leidenschaftliche<br />

Hobbyköchin: „Wie jemand sein Frühstück<br />

zubereitet, verrät so einiges – mit<br />

so einem Bild lässt sich eine Geschichte<br />

erzählen. Im Internet will man immer intimere<br />

Bilder sehen. <strong>Die</strong> Wohnungen <strong>und</strong><br />

Kleiderschränke waren der Anfang, jetzt<br />

will man bei den Mahlzeiten dabei sein.<br />

Im Netz wird jeder zum Stalker.“<br />

Obwohl Liefeld beteuert, dass Essen<br />

nicht zum Stilobjekt erhoben werden<br />

sollte, hat sie mit genau dieser Methode<br />

Erfolg. Mit der Einschränkung,<br />

dass der Stil sich verändert hat: Von<br />

glänzenden Oberflächen <strong>und</strong> in aufwendigen<br />

Shootings mit Haarspray gestylten<br />

Gerichten hin zu simplen Tafelfreuden,<br />

die aussehen, als wären sie in<br />

Omas Küche zubereitet worden – <strong>und</strong><br />

die eine ähnliche Geborgenheit vermitteln.<br />

<strong>Die</strong> Sehnsucht nach Traditionen in<br />

der digitalen Gesellschaft manifestiert<br />

sich im analogen Alltag durch nostalgische<br />

Statements. Hierzu zählen die<br />

Liebe zu Vintage-Möbeln ebenso wie gemeinsame<br />

Strickr<strong>und</strong>en moderner Großstädterinnen<br />

<strong>und</strong> nicht zuletzt der neue<br />

Nesthocker-Trend, der die alte Gewissheit<br />

feiert, dass es zu Hause doch am<br />

schönsten ist. Liefeld liefert die passenden<br />

Bilder dazu.<br />

LENA BERGMANN leitet das Stil-Ressort<br />

von <strong>Cicero</strong> <strong>und</strong> isst am liebsten zu Hause<br />

105<br />

<strong>Cicero</strong> – 1. 2014

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