Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
WILLYS WILLE<br />
Schon vor Sigmar Gabriel musste ein SPD-Vorsitzender die Partei in ein Bündnis mit der<br />
Union zwingen: Willy Brandt. Leicht war das nicht, aber er wurde später B<strong>und</strong>eskanzler<br />
Von HARTMUT PALMER<br />
Herbert Wehner verlor im Gedränge<br />
zwei Zähne <strong>und</strong> vorübergehend<br />
seine Brille. Willy<br />
Brandt wurde ein Regenschirm auf den<br />
Kopf gehauen. Wütende „Demonstranten“,<br />
die Plakate gegen die Notstandsgesetze<br />
schwenkten, die SPD schmähten<br />
<strong>und</strong> Tomaten <strong>und</strong> Eier warfen, versuchten<br />
am 17. März 1968 den SPD-Vorsitzenden<br />
Brandt <strong>und</strong> seinen Stellvertreter<br />
Wehner am Betreten der Meistersingerhalle<br />
in Nürnberg zu hindern. Erst nachdem<br />
beherzte Genossen ihnen zu Hilfe<br />
geeilt waren, konnten sie in die Halle<br />
vordringen. Wer die Rabauken waren,<br />
wurde nie geklärt.<br />
Es brodelte in der Partei. Willy<br />
Brandt war damals 54, so alt wie Sigmar<br />
Gabriel heute. Und genauso lange<br />
SPD-Vorsitzender wie dieser jetzt: vier<br />
Jahre. Im Dezember 1966 hatte sich<br />
Brandt auf eine Große Koalition eingelassen.<br />
Sie entzweite die Genossen. Viele<br />
bekämpften das Bündnis mit der Union<br />
oder verließen die Partei. Damit musste<br />
Brandt umgehen.<br />
Auch auf dem Parteitag selbst ging<br />
es keineswegs friedlich zu. Ein randalierender<br />
Genosse schüttete einem anderen<br />
ein Glas Wein ins Gesicht. Ein<br />
anderer fragte im Saal, ob es sozialdemokratisch<br />
sei, Richtungskämpfe in Messerstechereien<br />
ausarten zu lassen. Als<br />
Wehner am Abend, eskortiert von Polizisten,<br />
die Halle verließ, geriet er mit<br />
Franz Neumann aus Berlin aneinander.<br />
Der mokierte sich über den <strong>Auf</strong>marsch<br />
der Ordnungshüter: „Da ist ja genügend<br />
Polizei.“ Wehner knurrte ihn an: „Du<br />
bist ein Ästhet. Dir hätten sie auch mal<br />
so die Fresse polieren müssen wie mir.“<br />
Willy Brandt kommentierte die „beschämenden<br />
Vorgänge“ in seiner abgewogenen<br />
Art. Es „habe einiges zu tun<br />
mit dem Problem der unruhigen <strong>und</strong><br />
ungeduldigen, der zweifelnden <strong>und</strong><br />
bohrenden jungen Generation“, sagte er.<br />
„Aber Pöbel bleibt Pöbel.“<br />
1968 machten die Notstandsgesetze,<br />
mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, die<br />
Ohnmacht der parlamentarischen Opposition<br />
überdeutlich. <strong>Die</strong> rechtsradikale<br />
NPD gewann an Boden <strong>und</strong> zog in<br />
viele Länderparlamente ein. Viele deuteten<br />
diese Entwicklung als böses Vorzeichen.<br />
Zeigte sich hier nicht, wie anfällig<br />
die junge Bonner Demokratie 21 Jahre<br />
nach dem Ende der Hitler-Diktatur immer<br />
noch war?<br />
Es war das Jahr, das einer ganzen<br />
Generation ihren Namen gab: die 68er.<br />
Nicht nur in Berlin rebellierten die Studenten.<br />
Der Tod von Benno Ohnesorg,<br />
der am 2. Juni 1967 als unbeteiligter Zuschauer<br />
bei einer Demonstration gegen<br />
den persischen Schah in Westberlin erschossen<br />
worden war, erhitzte die Gemüter.<br />
Wenn es damals schon eine Mitgliederbefragung<br />
in der SPD gegeben<br />
hätte – sie wäre in dieser aufgeregten<br />
antiautoritären Stimmung wahrscheinlich<br />
gegen die Parteiführung ausgefallen.<br />
CDU UND CSU WAREN im November<br />
1966 nach 15-jähriger Herrschaft plötzlich<br />
auf die SPD angewiesen, weil die FDP<br />
die Koalition aufgekündigt hatte. Willy<br />
Brandt zählte eigentlich zu den Gegnern<br />
<strong>des</strong> schwarz-roten Bündnisses. Aber er<br />
hatte sich, bedrängt von den Bonner Spitzengenossen,<br />
überreden lassen, als Außenminister<br />
<strong>und</strong> Vizekanzler nach Bonn<br />
zu gehen, ein Schritt, der ihn später an die<br />
Spitze der B<strong>und</strong>esrepublik führen sollte.<br />
Nun war er es, der drängte. <strong>Die</strong> Partei<br />
sollte ihm <strong>und</strong> der Führung gleich zu<br />
Beginn <strong>des</strong> Parteitags in der Nürnberger<br />
Meistersingerhalle bescheinigen, dass<br />
der Eintritt in die Große Koalition richtig<br />
war: „Damit wir hier von Anfang an<br />
nicht im Unverbindlichen bleiben: Der<br />
Parteivorstand erbittet die ausdrückliche<br />
Billigung der Ende 1966 getroffenen<br />
Entscheidungen.“<br />
Der Vorsitzende suchte politische<br />
Rückendeckung. Er wollte entlastet<br />
werden. In einem späteren Redebeitrag<br />
reklamierte er sogar ausdrücklich<br />
„politische Indemnität“ – Strafverschonung<br />
– für sich <strong>und</strong> die SPD-Führung.<br />
Einerseits nämlich sah Brandt in<br />
der Regierungsbeteiligung die Chance,<br />
„die führende Rolle der deutschen Sozialdemokratie<br />
zu erproben <strong>und</strong> auszubauen“.<br />
Andererseits aber kannte er auch<br />
das Risiko <strong>des</strong> Scheiterns: „Gelingt uns<br />
das nicht, so werden die Schwächen <strong>und</strong><br />
Fehlentwicklungen dieses Staates auch<br />
der SPD angekreidet werden. Daran<br />
wird sich keiner vorbeimogeln können.“<br />
Und dann folgt ein unglaublicher Zusatz,<br />
der Brandts Gemütslage in zwei Worte<br />
presst: „Mitgefangen – mitgehangen!“<br />
<strong>Die</strong>ser Gedanke ist, 45 Jahre später,<br />
auch der Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt aller<br />
Reden, die der SPD-Vorsitzende Sigmar<br />
Gabriel überall im Lande hält, um<br />
die SPD-Mitglieder zur Zustimmung zu<br />
überreden. Mitgefangen – mitgehangen!<br />
Auch Gabriel will es nicht allein gewesen<br />
sein. Er erbittet, wie seinerzeit<br />
Brandt, die Zustimmung nicht nur, um<br />
recht zu bekommen. Er tut es, um jeden<br />
Einzelnen in die Pflicht zu nehmen, mitverantwortlich<br />
zu machen. Keiner soll<br />
hinterher sagen können, er habe mit der<br />
Sache nichts zu tun gehabt. Das Privileg,<br />
als Parteimitglied entscheiden zu dürfen,<br />
enthält – so wird Gabriel nicht müde zu<br />
trommeln – auch die Verpflichtung, sich<br />
nicht aus der Verantwortung stehlen zu<br />
dürfen. Auch Gabriel verlangt, ohne es<br />
so zu nennen, politische Indemnität.<br />
In Nürnberg entging Brandt im März<br />
1968 nur knapp einer Blamage. Als<br />
Foto: Konrad Rufus Müller/courtesy PINTER & MILCH<br />
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<strong>Cicero</strong> – 1. 2014