Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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BERLINER REPUBLIK<br />
Reportage<br />
„Habt ihr den Alois gesehen?“ – Hugo Maas verlor 1914 seinen Onkel. <strong>Die</strong> Kirchenglocken forderte der Krieg, erst 1922 gab es neue<br />
Der Bergmann Hugo Maas, <strong>100</strong> Jahre alt, ist der<br />
letzte in Uchtelfangen im Saarland, der sich noch<br />
erinnert. Er hält den Kopf schief, die Gesichtsfalten<br />
ziehen sich wie ein runzliger Stern zwischen<br />
seinen fast blinden Augen zusammen. Aber er<br />
weiß noch alles. Wie das Dorf elektrisches Licht bekam. Wie<br />
die ersten Autos auftauchten. Wie auf einmal jeder wegfahren<br />
konnte, wann er wollte. Wie darunter die Dorfgemeinschaft zu<br />
zerbröseln begann. Maas sitzt unter einer Neonröhre in seiner<br />
Küche, er isst Wurst mit Gurke, langsam, mit Messer <strong>und</strong> Gabel.<br />
Nichts hat den Ort damals so umgekrempelt wie der Erste<br />
Weltkrieg. „Der Kriech“, sagt der Greis.<br />
Von der Tragödie, die Deutschland <strong>und</strong> die Welt vor<br />
<strong>100</strong> Jahren erlebten, ist heute im 4000-Einwohner-Dorf Uchtelfangen<br />
nur noch das Kriegerdenkmal zu sehen.<br />
Eine in den Himmel ragende Betonsäule<br />
von 1930, an der Spitze ein Kreuz, auf der Mauer<br />
dahinter die Namen der Gefallenen. Ein Ehrenmal<br />
für den Ersten Weltkrieg steht fast in jedem<br />
Ort in Deutschland. <strong>Die</strong> Menschen, denen<br />
es noch etwas sagt, sind bald ausgestorben. Wer<br />
die Männer waren, für die es errichtet wurde.<br />
Wie es war, als sie auszogen <strong>und</strong> nie wiederkamen.<br />
Hier <strong>und</strong> da sitzen noch ein paar Alte in ihren Häusern,<br />
mit Erinnerungen, nach denen niemand mehr fragt. Obwohl<br />
sie kostbar wären.<br />
Der H<strong>und</strong>ertjährige, Hugo Maas, ist einer von denen, die<br />
wenigstens das Kriegsende 1918 noch bewusst erlebt haben. Er<br />
ist ein Jahr alt, als der Krieg ausbricht. Sein Onkel ist der vierte<br />
Dorfbewohner, der im Feld umkommt: Alois Zimmer, ein Name<br />
auf dem Kriegerdenkmal oben links, er hat Hugo als Baby auf<br />
dem Arm gehabt. Zu dieser Zeit betreiben Alois’ Eltern die Dorfschenke,<br />
er hilft am Tresen, ansonsten schafft er unter Tage im<br />
Kohlebergwerk, in der Grube Göttelborn, genau wie später der<br />
Hugo. Drei Wochen nachdem er eingezogen wird, landet bei Pierremont<br />
eine Granate im Pulverfass seiner Kanone.<br />
Seine Mutter erhält die To<strong>des</strong>nachricht. Trotzdem fragt<br />
sie seither jeden Soldaten, den sie trifft, nach ihrem Sohn. Jahrelang.<br />
Hugo hat noch heute vor Augen, wie seine Großmutter<br />
nach Kriegsende am Straßenrand steht <strong>und</strong> wildfremden,<br />
durchmarschierenden Soldaten zuruft: „Habt ihr unseren Alois<br />
gesehen?“ <strong>Die</strong> Männer haben gelacht.<br />
DIE MÜTTER VON UCHTELFANGEN haben geahnt, was da kommt.<br />
„Et is mobil!“, verkündet der Ortsbote am 1. August 1914 <strong>und</strong><br />
bimmelt mit seiner Glocke. Während er durch die Straßen zieht,<br />
jubeln die Männer, die Frauen aber weinen. Das jedenfalls erzählt<br />
man sich bis heute im Ort. Neben mündlichen<br />
Überlieferungen, Akten, Karten <strong>und</strong><br />
Briefen lässt sich die folgende Geschichte vor<br />
allem dank der Uchtelfanger Schneiderstochter<br />
Anna S. rekonstruieren, die während <strong>des</strong> Krieges<br />
Tagebuch führte. „Schon den ganzen Tag<br />
lag es wie Blei in der Luft. Es war, als wenn alles<br />
ausgestorben wäre. <strong>Die</strong> Leute hatten keine<br />
Lust mehr zu arbeiten. Es war die Stille vor einem<br />
Gewitter“, schreibt sie vom Tag, an dem der Krieg beginnt.<br />
Als die Söhne <strong>und</strong> Ehemänner schließlich im Morgengrauen<br />
in die Schlacht ziehen, vom Pfarrer mit den Sakramenten versehen<br />
<strong>und</strong> „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen“ singend,<br />
laufen die Frauen ihnen noch bis weit hinter die Ortsgrenze hinterher.<br />
Und während die Dorfkinder in den Herbstferien 1914<br />
bei Soldatenspielen <strong>und</strong> Übungsmärschen „vaterländische“ Lieder<br />
anstimmen, gehen ihre Väter auf den Schlachtfeldern Europas<br />
jämmerlich zugr<strong>und</strong>e. 25 Männer sterben schon in den<br />
ersten Kriegswochen. Es sind Schlosser, Schuhmacher, Bäcker<br />
60<br />
<strong>Cicero</strong> – 1. 2014