Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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die experimentellen Spätavantgardisten meinen, sie gehörten ebenfalls im<br />
Roman thematisiert? Solche Wichtigtuerei meide ich.“ Warum aber? „Weil<br />
mich die amerikanischen <strong>und</strong> englischen Romanciers von Philip Roth über<br />
Jonathan Franzen bis Hanif Kureishi ( Gavron schnippt mit dem Finger <strong>und</strong><br />
zeigt auf das Bücherregal hinter ihm ) gelehrt haben, dass man auch in unserer<br />
fragmentierten Welt mit epischem Atem Geschichten erzählen kann,<br />
ohne den Leser gleichzeitig mit den Schreibproblemen <strong>des</strong> Verfassers zu behelligen.<br />
Nicht zu vergessen: Haruki Murakami <strong>und</strong> Will Self.“<br />
Ein klares Statement gegen die Gebote oft blutleer gewordener Dechiffrierprosa.<br />
Während die Frage, ob die Familie Gavron in Westbanksiedlungen<br />
hergestelltes Olivenöl im Fall <strong>des</strong> Falles tatsächlich boykottieren würde,<br />
eine geradezu salomonische Antwort erfährt: „Habe ich die Wahl, kaufe<br />
ich Produkte aus Kern-Israel. Das habe ich auch jenen in den Siedlungen<br />
gesagt, die mich während meiner unzähligen Recherche-<strong>Auf</strong>enthalte dort<br />
zum Essen eingeladen hatten <strong>und</strong> mir mit immenser Fre<strong>und</strong>lichkeit begegnet<br />
waren – beunruhigend normale Menschen, ausdifferenzierte Individuen<br />
wie überall auf der Welt <strong>und</strong> beileibe nicht nur fanatische Nationalreligiöse.<br />
Was freilich nichts daran ändert, dass ich deren regierungsalimentierte Besiedlung<br />
der Palästinensergebiete für falsch <strong>und</strong> gefährlich halte. Nicht alles,<br />
was formal legal scheint, ist ethisch <strong>und</strong> politisch legitim.“<br />
Assaf Gavron ist aufgestanden <strong>und</strong> steht, die Hände beinahe verlegen<br />
in den Jeans, vor einem der ebenfalls unprätentiös studentisch wirkenden<br />
Bücherregale aus dem Baumarkt, deren eng gestapelter Inhalt aus einem<br />
einfachen Gr<strong>und</strong> recht überschaubar wirkt: <strong>Die</strong> hebräische Schrift ist<br />
kompakter, weshalb in der Übersetzung selbst DeLillos <strong>und</strong> Franzens Wälzer<br />
räumlich um die Hälfte schrumpfen. <strong>Die</strong>s gilt auch für die von Gavron<br />
neu übersetzten „Neun Erzählungen“ von Jerome D. Salinger <strong>und</strong> für Philip<br />
Roths „Portnoys Beschwerden“. „Was ich den Angelsachsen verdanke“,<br />
sagt der Romancier, der zu den prominentesten Autoren der modernen israelischen<br />
Literatur gehört, „ist unbeschreiblich. Vielleicht hätte ich ohne<br />
die Lektüre ihrer Bücher nie erfahren, dass auch heute noch Romane geschrieben<br />
werden können, die mehr in den Blick nehmen als die Binnenwelt<br />
eines Apartments in der Mittelschicht.“<br />
Was wiederum Gavrons Frau aus der Küche heraus kommentiert, ebenfalls<br />
im sanft-rauen Englisch der Israelis: „Assaf, was ist mit dem Olivenöl?<br />
<strong>Die</strong> Geschichten laufen uns ohnehin hinterher.“ Ein Privileg, könnte man<br />
sagen, ein Standortvorteil. Bis man, wieder draußen im von Palmenwedeln<br />
zerteilten Mittelmeerlicht, an einem Kiosk die üblichen Schlagzeilen der<br />
Jerusalem Post liest, die von irgendeinem Punktsieg der Siedler berichten.<br />
Eine Fortschreibung von Assaf Gavrons Buch? Eher eine aufgeregte Fußnote,<br />
die an die existenzielle Wucht <strong>des</strong> Romans nicht heranlangt. Dank<br />
der Angelsachsen – <strong>und</strong> eines Autors, der Fairness <strong>und</strong> Genauigkeit in keiner<br />
Zeile missversteht als konfliktscheue Weichzeichnerei.<br />
MARKO MARTIN mag das Heterogene <strong>und</strong> liebt darum Tel Aviv<br />
138<br />
<strong>Cicero</strong> – 1. 2014<br />
Foto: Gal Hermoni (Seiten 136 bis 138)