Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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WELTBÜHNE<br />
Reportage<br />
vom Steg in das brackige Wasser zu fallen<br />
<strong>und</strong> einem Alligator direkt in die<br />
Augen zu schauen. <strong>Die</strong> Luft ist feucht,<br />
<strong>und</strong> ich schwitze, umgeben von einem<br />
Schirm aus Moskitos, die ich hören,<br />
aber nicht sehen kann. Nur gelegentlich<br />
werde ich durch das T-Shirt gestochen.<br />
Je tiefer ich in den Sumpf hineinkomme,<br />
<strong>des</strong>to dunkler wird es. Außer<br />
mir ist hier niemand.<br />
Zwischen dem Sumpf <strong>und</strong> meiner<br />
Fantasie entwickelt sich ein inniger Dialog.<br />
Baumwurzeln werden zu Gesichtern<br />
<strong>und</strong> Gestalten, verschiedentlich<br />
zücke ich die Kamera, um einen Alligator<br />
zu fotografieren, der sich bei näherer<br />
Betrachtung als Treibholz entpuppt.<br />
Ich starre auf das Wasser nahe <strong>und</strong> fern,<br />
immer auf der Suche nach den Alligatoren.<br />
Nach etwa vier St<strong>und</strong>en spuckt mich<br />
der Sumpf wieder auf die Ringstraße. Ich<br />
fühle mich wie nach einem Trip, glücklich<br />
überlebt zu haben, aber auch irgendwie<br />
erschöpft <strong>und</strong> leer. Nicht einen Alligator<br />
habe ich gesehen.<br />
VIELLEICHT IST DIE NATUR schon <strong>des</strong>halb<br />
magisch, weil wir sie kaum mehr<br />
gewöhnt sind. Weil wir viele Pflanzen<br />
<strong>und</strong> Tiere, ihre Geräusche, Gerüche <strong>und</strong><br />
Verhaltensweisen gar nie mehr kennenlernen.<br />
Vielleicht ist sie <strong>des</strong>halb manchmal<br />
auch ein wenig bedrohlich. Vielleicht<br />
ist es daher ein entlasten<strong>des</strong> Gefühl, wieder<br />
in die Zivilisation, das Menschengemachte<br />
zurückzukehren.<br />
<strong>Die</strong>se Rückkehr ist dennoch ein Kulturschock.<br />
Er vollzieht sich im Ortswechsel<br />
von den Sümpfen nach Celebration,<br />
die Kunststadt wenige Meilen südlich<br />
von Orlando. Ich bin jetzt wieder zurück<br />
bei Disney. <strong>Die</strong> Walt Disney Company<br />
hat hier geschätzte 2,5 Milliarden Dollar<br />
investiert, um das Ideal einer Kleinstadt<br />
zu schaffen. „Das Ziel, nach dem deine<br />
Seele gesucht hat“, wie Celebration auf<br />
großen Plakaten vermarktet wurde.<br />
<strong>Die</strong> Seele sucht, <strong>und</strong> dann wird sie<br />
verschlungen von einem Ort, der selbst<br />
keine hat. Celebration erinnert bei der<br />
Einfahrt in die Stadt an die „Wisteria<br />
Lane“ aus der Fernsehserie „Desperate<br />
Housewives“, nur dass die im Vergleich<br />
mit Celebration ein ziemlich heißes Pflaster<br />
ist. Nichts durchbricht hier die Ordnung<br />
<strong>und</strong> Stille. <strong>Die</strong> Stadt wirkt wie tot.<br />
Im Ortskern mit einigen Restaurants,<br />
Ein Modell<br />
vereinfacht die<br />
Wirklichkeit, um<br />
sie besser<br />
darstellen <strong>und</strong><br />
erklären zu<br />
können<br />
Cafés <strong>und</strong> einem Hotel, alles um einen<br />
kleinen See gruppiert, sitzen immerhin<br />
einige Menschen in Schaukelstühlen <strong>und</strong><br />
trinken Kaffee.<br />
Ron, der Barkeeper, der das Bier vor<br />
mich auf den Tresen stellt, ist begeistert.<br />
Er hat soeben ein kleines Häuschen für<br />
seine Familie gekauft. Nein, in Orlando,<br />
nicht in Celebration. „Ich hätte liebend<br />
gerne hier gewohnt, aber dann hätte das<br />
Haus das Dreifache gekostet.“ Was ist<br />
so toll an dieser Stadt? „Das hier ist das<br />
Modell für die perfekte Kleinstadt“, sagt<br />
Ron, „die haben hier wirklich einen super<br />
Job gemacht.“<br />
Ein Modell vereinfacht die Wirklichkeit,<br />
um sie besser darstellen <strong>und</strong><br />
erklären zu können. Ein Modell bringt<br />
die Vorstellung von Wirklichkeit in<br />
Form <strong>und</strong> lässt Kompliziertes weg. Am<br />
frühen Morgen sind in Celebration Armadas<br />
von Grünpflegern unterwegs, die<br />
meisten schwarz, um Rasenkanten zu<br />
schneiden, Wege abzuspritzen <strong>und</strong> Laub<br />
aufzukehren. Aus Lautsprechern in den<br />
Pflanzen entlang der Wege tönt Disney-<br />
Musik. Auch hier klären einen überall<br />
Schilder auf, dass man den „Einwohnerausweis“<br />
braucht, um Zugang zu haben,<br />
welche Kleidung man beim Baseballspielen<br />
tragen soll <strong>und</strong> dass es verboten ist,<br />
die Alligatoren zu belästigen. Humor<br />
haben sie.<br />
Am Nachmittag mache ich einen Spaziergang<br />
um den See. Träumend schlendere<br />
ich über saubere Wege <strong>und</strong> gebürstete<br />
Holzstege <strong>und</strong> setze mich auf der<br />
ruhigen Seite <strong>des</strong> Sees auf eine Bank. Da<br />
ist nun niemand mehr unterwegs. Oder<br />
doch. Ich traue meinen Augen nicht, als<br />
plötzlich, wenige Meter entfernt, ein Alligator<br />
lautlos durch das Wasser pflügt. Er<br />
sinkt etwas tiefer, als ich hektisch meine<br />
Kamera zücke. Da krauche ich st<strong>und</strong>enlang,<br />
das Abenteuer suchend, durch die<br />
Sümpfe, <strong>und</strong> nicht ein Alligator zeigt sich.<br />
Aber hier, in dieser Kunststadt, kurz vor<br />
Wiedereintritt in die Mickeysphäre, da<br />
schwimmt er.<br />
Das ist es also, was Disney geschafft<br />
hat. Das Künstliche wird natürlicher, als<br />
es die Wirklichkeit sein kann.<br />
MIRIAM MECKEL ist Publizistin <strong>und</strong><br />
Professorin für Kommunikationsmanagement<br />
an der Universität St. Gallen. Ihr<br />
Essay „Wir verschwinden – der Mensch im<br />
digitalen Zeitalter“ ist soeben erschienen<br />
Illustration: Sebastian Haslauer<br />
88<br />
<strong>Cicero</strong> – 1. 2014