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Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)

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WELTBÜHNE<br />

Reportage<br />

Herr Chen ist ein höflicher<br />

Mann. Als amtierender<br />

Präsident der „Academy<br />

of Management“,<br />

der internationalen Vereinigung<br />

der Managementforscherinnen<br />

<strong>und</strong> -forscher muss Ming-Jer Chen zur<br />

Eröffnung der <strong>Jahres</strong>tagung 2013 sprechen.<br />

Er lächelt gewinnend in den Saal<br />

<strong>und</strong> sagt: „Ich habe gehört, man soll jede<br />

Rede mit einem kleinen Scherz beginnen,<br />

um die <strong>Auf</strong>merksamkeit der Zuhörer zu<br />

gewinnen <strong>und</strong> gleichzeitig ins Thema<br />

einzuführen.“<br />

Herr Chen steht vor der Bühne <strong>des</strong><br />

größten Saales im „Dolphin Hotel“ in<br />

Walt Disney World, Florida. <strong>Die</strong> Wissenschaftler<br />

haben sich hier versammelt,<br />

um drei Tage lang ihre Forschungsergebnisse<br />

zu präsentieren, aber auch ein<br />

großes Thema zu diskutieren: „Capitalism<br />

in question“ prangt als Slogan auf<br />

dem dicken Konferenzprogramm. <strong>Die</strong><br />

beiden Worte kreuzen sich in Rot <strong>und</strong><br />

Blau, das gemeinsame „s“ ist zum Dollarzeichen<br />

mutiert.<br />

Herr Chen erzählt eine Geschichte: In<br />

einer kleinen Stadt gibt es einen Ladenbesitzer,<br />

<strong>des</strong>sen Geschäfte gut gehen. Es ist<br />

der einzige Laden am Ort, die Menschen<br />

kaufen bei ihm alle Dinge fürs alltägliche<br />

Leben ein. Eines Tages kommt der Ladenbesitzer<br />

zu seinem Geschäft <strong>und</strong> ist sehr<br />

aufgeregt. Direkt links neben seinem Laden<br />

hat ein zweiter eröffnet. Dort prangt<br />

ein Schild an der Tür: „Best Deals“. Am<br />

nächsten Morgen, als er wieder zu seinem<br />

Geschäft kommt, trifft ihn fast der Schlag.<br />

Auch rechts neben ihm hat jemand einen<br />

weiteren Laden eröffnet <strong>und</strong> ein Schild<br />

über die Tür gehängt: „Lowest Prices“.<br />

Der Ladenbesitzer denkt den ganzen Tag<br />

fieberhaft nach, was zu tun sei. Dann<br />

hängt auch er ein großes Schild über den<br />

Eingang seines Geschäfts. Darauf steht:<br />

„Main Entrance“.<br />

Herr Chen ist Taiwanese. Er weiß,<br />

was es heißt, den anderen das Gesicht<br />

wahren zu lassen. Deshalb erwähnt er<br />

Walt Disney mit keinem Wort. Und doch<br />

ist dieser Anfangsscherz eine Parabel auf<br />

diesen Ort. Denn so hat es auch Disney<br />

in Orlando gemacht. Er hat ein Schild mit<br />

der <strong>Auf</strong>schrift „Haupteingang“ über seinen<br />

Freizeitpark „Magic Kingdom“ gehängt<br />

<strong>und</strong> ihn so zum Eingangstor für<br />

ganz Florida gemacht.<br />

Für ihre <strong>Jahres</strong>konferenz haben<br />

mehr als 8500 Wissenschaftler das Tor an<br />

der Straße zu Disney World durchfahren,<br />

rechts <strong>und</strong> links eine überdimensionierte<br />

Mickey <strong>und</strong> Minnie Mouse. Darüber<br />

steht: „Hier werden die Träume wahr.“<br />

Wir alle haben nun ausreichend Gelegenheit,<br />

live zu erleben, was das heißt, denn<br />

die meisten kommen für die Dauer der<br />

Konferenz gar nicht mehr aus der Mauswelt<br />

heraus. Lediglich eine kleine versprengte<br />

Gruppe von Kollegen trifft sich<br />

am Samstagnachmittag, um zum Lake<br />

Apopka zu fahren <strong>und</strong> angewandte Forschung<br />

zu betreiben. Unter dem Motto<br />

„Aussteigen aus Disney World“ treffen<br />

sie Vertreter der Landarbeitergewerkschaft,<br />

um Umweltschäden zu besichtigen<br />

<strong>und</strong> „Dysfunktionen <strong>des</strong> Kapitalismus“<br />

zu erörtern. Es ist eine einzige von<br />

1600 Veranstaltungen.<br />

Alle anderen können auch vor Ort<br />

die Dysfunktionen <strong>des</strong> Kapitalismus<br />

studieren, die ganz eng verb<strong>und</strong>en sind<br />

mit dem, was Disney so erfolgreich<br />

macht. <strong>Die</strong> Walt Disney Company ist<br />

in zahlreichen Fallstudien als Beispiel<br />

für eine brillante Diversifizierungsstrategie<br />

analysiert worden: die Industrialisierung<br />

der Unterhaltung entlang der<br />

Wertschöpfungskette, so kann man das<br />

beschreiben. Man kann auch sagen: Es<br />

gibt kein Entkommen, weder physisch<br />

noch psychisch.<br />

Meine erste magische Mauserfahrung<br />

mache ich beim Einchecken ins<br />

Hotel. Der Rezeptionist zeigt mir die<br />

Zimmerkarte, auf der ein kleines Mickey-<br />

Mouse-Konterfei zu sehen ist, <strong>und</strong> führt<br />

sie an das Kartenlesegerät, auf dem ebenfalls<br />

eine Mickey Mouse prangt. Dann<br />

sagt er: Einfach immer die kleine Mickey<br />

an die große Mickey halten, <strong>und</strong> schon<br />

wird alles möglich. Es muss an meiner<br />

verderbten europäischen Sozialisation<br />

liegen, dass mir dabei ganz seltsame Assoziationen<br />

in den Sinn kommen. All<br />

das hat rein gar kein Sexappeal. Eigentlich<br />

geht es nur um eines: Geld verdienen,<br />

<strong>und</strong> zwar möglichst mit jeder Bewegung,<br />

die der Gast macht.<br />

JE LÄNGER ICH in Disney World bin,<br />

<strong>des</strong>to eher neige ich dazu, dem Veranstalter<br />

der Konferenz einen schrägen subversiven<br />

Ansatz zu unterstellen. Dass wir<br />

hier sind, um den Kapitalismus infrage zu<br />

stellen, hat seinen Gr<strong>und</strong>. Denn jenseits<br />

der allumfassenden Gewinnorientierung<br />

ist an diesem Ort nichts kapitalistisch.<br />

Disney World ist ein Monopolbetrieb im<br />

umfassenden Kontrollmodus <strong>des</strong> Gastes.<br />

Disney sorgt für Unterkunft, Verpflegung,<br />

Transport <strong>und</strong> Unterhaltung. Noch<br />

Wünsche? <strong>Auf</strong> dem ganzen Areal, etwa<br />

so groß wie die Stadt San Francisco, gibt<br />

es vor allem eine Marke: Disney.<br />

Ein kanadischer Kollege hat <strong>des</strong>halb<br />

Déjà-vus eines früheren Besuchs in der<br />

DDR. Eine Kollegin aus Rumänen sagt,<br />

sie fühle sich in ihrem Hotelbadezimmer<br />

an den Kommunismus erinnert. Ein Kollege<br />

aus Deutschland findet das Schlange<br />

stehen als umfassenden Existenzzustand<br />

in Disney World zeitgeschichtlich überholt,<br />

vor allem weil die Disney-App „My<br />

Disney Experience“ die Wartezeit von einer<br />

St<strong>und</strong>e für eine Attraktion als „moderat“<br />

anpreist.<br />

Überbordende Sicherheitsvorkehrungen<br />

<strong>und</strong> Verbotstafeln an jeder Ecke,<br />

sich einreihen, Geduld haben, all das hat<br />

eine Anmutung von Gehirnwäsche zu<br />

Unterhaltungszwecken. Ich fühle mich<br />

an die „Truman Show“ erinnert, nur<br />

dass hier alle wissen, was gespielt wird.<br />

Im See darf man nicht schwimmen, auf<br />

der Straße nicht laufen <strong>und</strong> im Bus nicht<br />

essen <strong>und</strong> trinken. Und tatsächlich ließe<br />

sich bei der Bronzestatue von Walt Disney<br />

mit Mickey Mouse an der Hand im<br />

„Magic Kingdom“-Themenpark durchaus<br />

der Trugschluss ziehen, Nordkoreas<br />

Kim Il Sung sei auch schon mal hier gewesen,<br />

schiene nicht im Hintergr<strong>und</strong> das<br />

Schloss von Cinderella auf, das nun doch<br />

etwas zu verspielt ist für nordkoreanische<br />

Verhältnisse.<br />

Als einer von Disneys Erfolgsfaktoren<br />

gilt: „offer a promise, not a product“,<br />

biete ein Versprechen, kein Produkt. Das<br />

hat perfekt funktioniert. Disney bietet<br />

das Versprechen einer heilen, familienorientierten<br />

Unterhaltungswelt, in der<br />

die Charaktere nie Probleme machen,<br />

weil sie ausgedacht sind. Cinderella wird<br />

nie hässlich, Mickey Mouse nie alt, <strong>und</strong><br />

wenn Donald Duck wie immer kein Geld<br />

mehr hat, kann immer noch sein reicher<br />

Onkel einspringen. So ziehen seit 1971<br />

Millionen Menschen jährlich zum Lake<br />

Buena Vista, an die 70 Millionen waren<br />

es 2012, um das Versprechen einzulösen,<br />

das ihnen gegeben wurde.<br />

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<strong>Cicero</strong> – 1. 2014

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