Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators<br />
tauchten auch in Brandts Plädoyer auf –<br />
wieder in der von ihm geliebten Frageform:<br />
„Woran sind die Arbeitnehmer vor<br />
allem interessiert? Sie sind an einer Politik<br />
<strong>des</strong> Friedens interessiert? Machen wir<br />
die, oder machen wir die nicht?“ (Pause)<br />
„Sie sind an einem ges<strong>und</strong>en Wirtschaftswachstum<br />
interessiert, ohne das<br />
es keinen Boden für aktive Lohnpolitik<br />
oder für fortschrittliche Vermögenspolitik<br />
gibt. Haben wir uns auf diesen Weg<br />
begeben oder nicht?“ (Beifall)<br />
„Sie sind interessiert an der Demokratisierung<br />
<strong>und</strong> Modernisierung von<br />
Wirtschaft, Bildungswesen <strong>und</strong> staatlicher<br />
Organisation <strong>und</strong> sie sind interessiert<br />
an sozialer Sicherheit.“<br />
Brandt wusste, wie man die sozialdemokratische<br />
Seele streichelt – auch <strong>und</strong><br />
gerade wenn sie aufgewühlt <strong>und</strong> voller<br />
Zweifel darüber ist, ob man mit den<br />
Konservativen Gutes bewirken kann, die<br />
man eben noch bekämpft hat: „Es ist klar,<br />
dass eine sozialdemokratisch geführte<br />
Regierung gewisse sozial- <strong>und</strong> steuerpolitische<br />
Entscheidungen anders getroffen<br />
hätte, als sie die gegenwärtige Koalitionsregierung<br />
getroffen hat.“ Das könnte von<br />
Gabriel sein.<br />
Und weiter Brandt: „Es war eine<br />
ganz große Sache, dass die dynamische<br />
Rente gesichert werden konnte, <strong>und</strong> sie<br />
wäre ohne Sozialdemokraten in die Binsen<br />
gegangen.“ Aktueller geht’s kaum.<br />
Vielleicht war Sigmar Gabriel so<br />
schlau, sich den dicken blauen Band mit<br />
den Parteitagsprotokollen <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong><br />
1968 anzuschauen. Wenn nicht, sollte<br />
er ihn sich kommen lassen. Er findet ihn<br />
gleich neben seiner Parteizentrale, Stresemannstraße<br />
30, im Archiv der SPD,<br />
oder antiquarisch über den Buchhandel<br />
im Internet.<br />
Es lohnt sich.<br />
Zumal der Vorsitzende entschlossen<br />
zu sein scheint, seinem Vorbild Brandt<br />
zwar nicht unbedingt als Außenminister<br />
nachzufolgen. Aber eines Tages als<br />
Kanzler.<br />
HARTMUT PALMER ist politischer<br />
Chefkorrespondent bei <strong>Cicero</strong>. Nach dem<br />
Gang ins SPD-Archiv bestellte er sich das<br />
Parteitagsprotokoll als Buch: 1341 Seiten.<br />
KONRAD RUFUS MÜLLER zählt zu<br />
Deutsch lands wichtigsten Porträtfotografen.<br />
Seine Ausstellung „Über Willy Brandt“ ist<br />
vom 5. Dezember bis 1. Februar 2014 im<br />
Willy-Brandt-Haus Berlin zu sehen<br />
FRAU FRIED FRAGT SICH …<br />
… warum sie keine Patriotin sein kann<br />
Ich will mein Land gern lieben. Aber welches ist mein Land? Ist es<br />
das Deutschland, in dem jeder seine Meinung sagen kann, in dem<br />
Menschen per Verfassung nicht diskriminiert werden dürfen <strong>und</strong><br />
das alljährlich reumütig seiner Nazi-Verbrechen gedenkt? Oder ist<br />
es das Deutschland, in dem 20 Prozent der Bevölkerung latent oder<br />
offen rassistisch <strong>und</strong> antisemitisch denken, in dem Menschen anderer<br />
Religion oder Hautfarbe sich nicht wirklich sicher fühlen können<br />
<strong>und</strong> in dem eine rechte Mörderbande jahrelang unbehelligt töten<br />
konnte?<br />
Als junge Frau schämte ich mich, Deutsche zu sein. In Italien oder<br />
Griechenland gab ich mich als Skandinavierin aus. Da war es fast eine<br />
Erleichterung, als ich vor einigen Jahren erfuhr, dass große Teile meiner<br />
jüdischen Familie väterlicherseits den Nazis zum Opfer gefallen<br />
waren: Wenigstens bin ich nicht Tochter oder Enkelin von Mördern.<br />
Meinen Patriotismus hat diese Erkenntnis allerdings nicht gefördert.<br />
Man kann Deutschland für vieles bew<strong>und</strong>ern. Für seine Wirtschaftsleistung,<br />
seine soliden <strong>und</strong> in aller Welt begehrten Produkte,<br />
seine stabile Demokratie. Für viele seiner Sozialleistungen, ein ordentliches<br />
– wenn auch viel zu teures – Ges<strong>und</strong>heitssystem, ein Bildungssystem,<br />
das besser als in vielen Ländern ist, wenn auch längst<br />
nicht gut genug. Deutschland ist erfolgreich, weil es zielorientiert,<br />
leistungsstark <strong>und</strong> effizient ist. Aber mit denselben Tugenden wurde<br />
auch der Massenmord an den Juden organisiert.<br />
Ein paar Wochen lang, im Sommer 2006, gelang es mir, mein<br />
Land, sagen wir: gern zu haben. Als die Welt zu Gast bei Fre<strong>und</strong>en<br />
war, das Wetter w<strong>und</strong>erschön, die Menschen fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> die<br />
schwarz-rot-goldenen Fahnen harmlose Partydeko, da gefiel es mir<br />
hier ganz gut. Aber Deutschland zu lieben, ist schwer. Italien, Spanien<br />
oder Frankreich zu lieben, scheint einfacher. Andererseits ziehen<br />
dann doch die wenigsten Deutschen dorthin um. Auch ich nicht.<br />
Was mich mit meinem Land verbindet, ist eine Vernunftehe: Ich<br />
schätze seine Qualitäten <strong>und</strong> bin ihm in kritischer Zuneigung verb<strong>und</strong>en.<br />
Vielleicht ist das ja besser als eine Liebe, die blind macht.<br />
AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin <strong>und</strong> Bestsellerautorin.<br />
Für <strong>Cicero</strong> schreibt sie über Männer, Frauen <strong>und</strong> was das Leben<br />
sonst noch an Fragen aufwirft<br />
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<strong>Cicero</strong> – 1. 2014