Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schullehrer. Vor allem aber sind es Bergleute, unter<br />
Tage werden sie von Knaben <strong>und</strong> Alten ersetzt, in offenen<br />
Gruben sogar von Frauen.<br />
Männer, die bisher nie über Saarbrücken hinausgekommen<br />
waren, verbluten in Smorgon, ersticken an Halsschüssen in Wolkowyschki,<br />
erfrieren in den Karpathen, werden bei Nomkaplise<br />
von Sprengsätzen zerrissen, sterben auf englischen Gefangenenschiffen<br />
an Leichenvergiftung oder verschwinden irgendwo<br />
in Frostfeldern hinter Riga. Manchem, wie dem 35 Jahre alten<br />
Bergmann August Brück, gelingt es noch, eine Karte nach<br />
Hause zu schicken: „Liebe Eltern, teile Euch mit, dass ich (…)<br />
bei Augustowo verw<strong>und</strong>et worden bin. (…) Ich habe einen<br />
Schuss im linken Oberschenkel <strong>und</strong> erfrorene Zehen am linken<br />
Fuß. Herzlichen Gruß an Euch alle, Euer Sohn August“.<br />
Zwei Tage später stirbt er.<br />
<strong>Die</strong> To<strong>des</strong>nachricht überbringt meist der Pfarrer. In Uchtelfangen<br />
lernt man bald, was es heißt, wenn er unter Frauengeschrei<br />
ein Haus verlässt. <strong>Die</strong> Trauer wird gemeinschaftlich<br />
bewältigt <strong>und</strong> durch tiefe Frömmigkeit. Für jeden Gefallenen<br />
läuten die Glocken, außerdem trifft sich die Nachbarschaft jeweils<br />
drei Abende lang, um Rosenkranz für ihn zu beten. Wird<br />
ein Soldat im Dorf bestattet, begleitet ihn der Kriegerverein<br />
zum Grab <strong>und</strong> verabschiedet ihn mit drei Gewehrsalven.<br />
Am 24. August 1914 vermerkt Anna S. in ihrem Tagebuch<br />
einen weiteren Toten: „Es ist der Musketier Zimmer Alois, er<br />
ist unverheiratet <strong>und</strong> 22 Jahre alt.“ Alois, der Onkel <strong>des</strong> heute<br />
H<strong>und</strong>ertjährigen, Hugo Maas.<br />
Es dauert, bis der Ort kriegsmüde wird. Vielmehr scheinen<br />
die ersten Monate in aufgeregter Feierlichkeit zu vergehen.<br />
Siege wie bei Verdun im September 1914 oder in den Masuren<br />
im Februar 1915 werden mit Glockengeläut verkündet, auch<br />
nachts. Dann jubelt das Volk auf der Straße, holt die Flaggen<br />
raus, singt „Deutschland, Deutschland über alles“ <strong>und</strong> schmettert<br />
in der Kirche noch ein „Großer Gott, wir loben Dich“.<br />
Anfangs werden morgens, mittags <strong>und</strong> abends Gottesdienste<br />
für die Krieger gehalten, außerdem pilgern die Dorfbewohner<br />
täglich zur Bergkapelle. <strong>Die</strong> Frauen nähen gemeinsam<br />
Bettwäsche oder Verbandzeug für die Soldaten <strong>und</strong> stricken<br />
Wollsachen, bald stricken auch die Kinder mit.<br />
Verw<strong>und</strong>ete Soldaten im Krankenhaus <strong>des</strong> Nachbarorts<br />
werden von den Uchtelfangern mit Blumen, Kuchen, Butter,<br />
Eiern, Geflügel oder Früchten versorgt. Zu Weihnachten fährt<br />
der Bürgermeister an die Front, um Pakete an die Krieger zu<br />
verteilen. Auch Anna S. schickt einem Verehrer eines. Darin:<br />
„Eine Unterhose, 1 Hemd, Strümpfe, Taschentücher, Hosenträger,<br />
Hartwurst, Lebkuchen, Zigarren, Zigaretten, Hosenknöpfe<br />
<strong>und</strong> Weihnachtskerzen“.<br />
<strong>Die</strong> Spendierfreude hat schnell ein Ende. Anfang Dezember<br />
2014 bittet die Regierung noch darum, das Kuchenbacken<br />
zu unterlassen, um Mehl zu sparen. Im Januar ist das Backen<br />
von Neujahrskränzen bereits verboten. Ges<strong>und</strong>e Kälber dürfen<br />
plötzlich nicht mehr geschlachtet werden. Über den Winter<br />
geht dem Ort das Petroleum aus, die Leute sitzen vor dem Licht<br />
ihrer Öfen. <strong>Die</strong> Preise für Lebensmittel <strong>und</strong> Haushaltswaren<br />
steigen, die Qualität sinkt. <strong>Die</strong> Seife ist nur noch ein „<strong>und</strong>efinierbares<br />
Etwas“, Schuhwichse stinkt auf einmal unerträglich.<br />
IM FEBRUAR 1915 ERFASST DIE GENDARMERIE die Mehlmengen<br />
der Haushalte <strong>und</strong> durchsucht sie. „Einige wurden beim<br />
Kuchenbacken überrascht, das gab Wetterleuchten“, schreibt<br />
Anna S. in ihr Tagebuch. Lebensmittelbestände über zwei Zentner<br />
werden beschlagnahmt. „Niederträchtig“ findet sie das. Im<br />
Juli 1915 gibt es kurz gar kein Brot mehr, die Bergleute müssen<br />
mit leerem Magen in die Grube, das Dorf ist in <strong>Auf</strong>ruhr, zunehmend<br />
macht sich Ernüchterung breit. Im August gesteht Anna S.<br />
schließlich: „Ach, wie sind alle Leute kriegsmüd.“<br />
<strong>Die</strong> Andachten finden nicht mehr drei Mal täglich, sondern<br />
nur noch zwei Mal wöchentlich statt. „Sie werden nicht mehr<br />
zahlreich besucht“, schreibt Anna S. „Überhaupt hat der Eifer<br />
der Bevölkerung in allem nachgelassen.“ Statt<strong>des</strong>sen flüchtet<br />
man in den Aberglauben.<br />
Eine Wahrsagerin zieht in den Kriegsjahren durch die Dörfer<br />
<strong>und</strong> prophezeit die Rückkehr längst Gefallener, dafür lässt<br />
sie sich üppig mit Lebensmitteln bezahlen. Im Herbst 1915<br />
kursiert in Uchtelfangen das Gerücht, es gäbe am 11. November<br />
Frieden, weil ein lokaler Schneidermeister bei der Lösung<br />
eines uralten, in eine Eiche geritzten Zahlenrätsels die Ziffern<br />
11. 11. 15 herausbekommen habe.<br />
Doch statt dem Frieden rückt der Krieg näher: Ab Februar<br />
1916 kreisen Kampfflugzeuge über dem Nachbardorf<br />
Wemmetsweiler: „Unaufhörlich hört man den Donner der Geschütze“,<br />
schreibt Anna S. im März 1916. „Es ist ganz schrecklich.“<br />
Nachts müssen nun die Lichter gelöscht werden, auch der<br />
Zug nach Saarbrücken, inzwischen mit zertrümmerten oder<br />
fehlenden Fensterscheiben, fährt im Dunklen, Passagiere müssen<br />
sich den Weg durch die Abteile ertasten. Nie fallen Bomben<br />
auf Uchtelfangen, aber oft detonieren sie so nahe, dass im Dorf<br />
der Boden bebt, die Scheiben klirren <strong>und</strong> die Kinder weinen.<br />
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